Wozu soll Selbsterfahrung nützlich sein? Ich kenne mich doch schon mein Leben lang – ich weiß genug über mich! Wohl wahr – wir glauben, uns gut zu kennen, weil wir uns selbst am nächsten sind, weil wir unsere Rollen im Leben gefunden haben und mit unserem Leben hoffentlich überwiegend zufrieden sind.
Wir sind so, weil wir an unseren Erfahrungen gewachsen sind. Wir kennen unsere Talente, Vorlieben und Abneigungen, unsere Stärken, Schwächen, Hoffnungen und Ängste – und wir wissen das aus eigener Erfahrung. Und diese, unsere Erfahrung, ist die Quelle unserer unverrückbar erscheinenden Lebensweisheit, aus der heraus wir denken, fühlen und handeln.
Wir besitzen bereits die Selbsterfahrung einer einmaligen Biografie, sind die Kinder ganz bestimmter Eltern, die einer ganz bestimmten sozialen Gruppe angehören, die uns in einer ganz bestimmten Zeit nach den Werten und Normen dieser Gruppe erzogen haben. Diese Biografie liefert uns den Rahmen unserer Selbstwahrnehmung, sie ist die Grundlage unserer Meinungen und Überzeugungen, verfestigt in unseren Gewohnheiten und Routinen und sie ist das Gefängnis unserer ungelebten Möglichkeiten.
Ist das nicht ein wenig drastisch ausgedrückt? Vielleicht ja, aber in etlichen Fällen sicher nicht. Wir konnten uns weder unsere Eltern, noch deren Kultur und ebenso wenig die Zeit unserer Geburt aussuchen. Wir kamen zur Welt, wie es so schön heißt und haben uns dann so gut es ging an diese Welt angepasst. Dass diese Welt nicht zu allen Kindern gleichermaßen nett ist, ist eine Binsenweisheit. Dass auch in weniger netten Umständen „funktionierende“ Erwachsene heranwachsen können ebenfalls.
Aber was hätte aus einem Menschen werden können, der nicht im Slum sondern in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen wäre, dessen Eltern nicht traumatisiert waren, der nicht geschlagen worden ist und was es an unnetten Umständen mehr gibt? Die Lebensweisheiten solcher Biografien lauten sicher anders, als die von weniger belasteten Menschen.
Aber nicht nur dramatische Umstände formen Lebensweisheiten – die erforderlichen Anpassungen waren eben eher dramatisch und schlichte Erfahrungen der sogenannten Normalität begünstigen eben schlichte und normale Lebensweisheiten. In den ersteren ist das Drama tendenziell Programm in den anderen eher die Normalität. Die Frage ist: Wer sieht sich und die Welt klarer, richtiger oder wahrer?
Was ich so auszudrücken versuche, ist, dass wir üblicherweise eine sehr persönliche und eindimensionale Sicht auf uns selbst und die Welt haben. Dass diese Eindimensionalität die tatsächliche Vielfalt in der Welt und in uns selbst auf das beschränkt, was wir schon kennen. Dass wir auf unbekannte Phänomene tendenziell mit den altbekannten Möglichkeiten reagieren. Dass wir unser Wachstumspotenzial nicht erkennen und stattdessen lieber, die uns bekannte Normalität vorziehen.
Selbsterfahrung eröffnet neue Möglichkeiten, kann neue Lösungen für alte Fragen bieten, den Blick klären und führt zu mehr Freundlichkeit mit sich selbst und zu anderen.