Jürgen Wiebicke, „Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? – Gegen die Perfektionierung des Menschen – eine philosophische Intervention“
Ich bin ja schon länger der Ansicht, dass ein gewisses philosophisches Grundverständnis für den Lebensvollzug sehr hilfreich ist. Sei es, dass die Gedanken in eine stimmige Ordnung gebracht werden können; oder sei es, dass man sich Gedanken über ein „Gutes Leben“ machen kann. Unglücklicherweise formulieren viele Philosophen ihre Gedanken auf sehr komplizierte, fachspezifische Art und erschweren damit Nicht-Philosophen den Zugang zu ihren oft sehr wertvollen Einsichten. Diese Erschwernis gibt es bei Jürgen Wiebicke nicht, der eben auch noch Journalist ist und sein Schreibhandwerk so gut versteht, wie die Philosophie.
Jürgen Wiebicke beackert das Feld der sog. Praktischen Philosophie, die nach dem richtigen Handeln fragt und besser unter dem Namen Moralphilosophie, bzw. Ethik bekannt ist. Er behandelt zeitgenössische Themen wie Sterbehilfe, Organentnahmen, Selbstoptimierung per Drogen oder Chip-Implantaten und weitere Herausforderungen der postmodernen Welt, z.B. die Untersuchung, wie und bei welchen Themen Ethikkommissionen eingesetzt werden und auch wobei sie nicht gefragt werden – z.B. beim spannenden Thema Armut und Krankheit.
Jürgen Wiebicke schreibt gut leserlich. Er erwähnt mehr nebenbei die klassischen Positionen zu moralischen Fragen und der/die Leser*in erfährt ein wenig über Aristoteles, Kant, Bentham u.a. Gründlicher geht Wiebicke auf zeitgenössische Philosophen ein, fasst deren Positionen zusammen und bezieht Stellung dazu.
In der zeitgenössischen Diskussion tobt ein Kampf zwischen Universalisten und (Kultur)Relativisten. Gibt es so etwas wie allgemein menschliche Werte oder sind das immer nur kulturspezifische und letztlich beliebige soziale Konstruktionen? Die Relativistische Position des „anything goes“ lässt tendenziell alle modernen Möglichkeiten der Selbstoptimierung zu, während die Universalisten eher nach Prinzipien Ausschau halten, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte.
Die Gegenwart und die Zukunft halten enorme Herausforderungen für die Menschheit bereit. Nicht nur die Krisen von Umwelt, Bevölkerungszahl und Klima, sondern auch die neuesten Entwicklungen der Genetik und der künstlichen Intelligenz. Gemessen an früheren Erfahrungen mit neuen Technologien könnte man voraussagen, dass ihre Einführung eine Menge neuer Entwicklungen anstößt, die so sicher nicht vorhergesehen waren.
Der Abstand zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Allgemeinwissen wird immer größer. Was heute schon erforscht und gefunden wurde kommt erst eine bis zwei Generationen später in die Schulbücher. Viele Menschen stehen deshalb mit überkommenem Wissen fantastischen neuen Entwicklungen gegenüber. Ich denke, es ist hilfreich, sich so weit zu bilden, dass eine fundierte eigene Haltung dazu entstehen kann. Das Buch von Jürgen Wiebicke halte ich dazu für sehr geeignet.