Realming und Impfen

Dieser Text ist aus einem Workshop entstanden, in dem die Teilnehmerinnen ihre Schwierigkeiten bezüglich der Corona Situation formuliert haben. Insbesondere das Gefühl, dass es schwierig sei, in seiner Mitte zu bleiben.

Sachstandsbeschreibung

Die Bereiche von Realming – Ich mit mir, Dir und euch – sind in die umfassendere Umgebung der Natur eingebettet. In dieser Biosphäre (Geosphäre, Atmosphäre) gibt es Phänomene, die eigengesetzlich auftreten – ein Vulkanausbruch, ein Unwetter und auch Wölfe, Bären, Bakterien oder Viren. Es gehört zur Evolution der menschlichen Gattung, dass Menschen Wege gefunden haben, mit solchen Phänomenen umzugehen. Naturkatastrophen waren schon immer eine treibende Kraft für den Erfindungsreichtum und die Weiterentwicklung menschlicher Kulturen.
Das Phänomen Corona entstammt der Biosphäre. Seine besondere Qualität ist, dass es neuartig ist. Kein menschliches Immunsystem kann darauf vorbereitet sein. In der Folge hat das zu einer Pandemie geführt, einer weltweit auftretenden Erkrankung mit teils schweren Verläufen und tödlichem Ausgang. Der Umstand, dass das Virus über Tröpfchen durch die Luft übertragen werden kann, macht es extrem ansteckend. Das bringt die Gefahr mit sich, dass innerhalb sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen, sehr krank werden können (was genau so auch geschehen ist und immer noch geschieht). Das wiederum bringt nicht nur das Gesundheitssystem an und über den Rand seiner Leistungsfähigkeit, sondern führt auch in vielen anderen Lebensbereichen zu Problemen v.a. unbesetzte Arbeitsplätze können zu fatalen Wirkungsketten führen – die berühmt gewordenen systemrelevanten Jobs.
Virusinfektionen (auch mit neuartigen Viren) werden entweder mit mehr oder weniger schweren Symptomen durchgestanden und sie können auch zum Tod der Infizierten führen. Die Entdeckung, dass Viren der Auslöser von so spektakulären Krankheiten wie Pocken sind, war ein gewaltiger Fortschritt für die Medizin. Fast zur gleichen Zeit wurde auch das Prinzip der Impfung entdeckt. Und ebenfalls von Beginn an, wurde die Impfung mit Misstrauen betrachtet.

Immunsysteme

Der individuelle Mensch verfügt über eine biologisches Immunsystem – die unspezifische und die spezifische Abwehr, die dem biologischen System Mensch helfen, schädliche Einflüsse wie Viren, Bakterien, Parasiten etc. zu widerstehen. Derselbe Mensch hat auch ein psychisches Abwehrsystem, das ihm dabei hilft, schwer erträgliche Situationen durchzustehen. Zu guterletzt gibt es dann noch ein soziales Immunsystem, das durch solidarisches Handeln hilft, mit schwierigen Situationen wie Katastrophen fertig zu werden.
Darin lassen sich drei Aspekte des Mensch-Seins auffinden: Alle Menschen sind gleich, weil sie biologische Wesen sind. Einige Menschen sind einander ähnlich, weil sie derselben Kultur angehören. Und alle Menschen sind einmalig, weil sie ein persönliches Bewusstsein haben. Diese drei Aspekte sind immer gegeben, wenn sie auch unterschiedlich betont und gelebt werden. In der westlichen Kulturtradition wird die Einmaligkeit, der Individualismus für sehr wichtig genommen. In asiatischen Kulturtraditionen wird eher die Gemeinschaft für sehr wichtig genommen.
Der Fall der Pandemie betrifft alle drei Aspekte des Mensch-Seins. Der einzelne Mensch kann sich infizieren und andere anstecken. Die verschiedenen Nationen finden unterschiedliche Möglichkeiten, auf das Virus einzugehen. Und weil es eine Pandemie ist, sind alle Erdenbürger davon betroffen, auch davon, wie einzelne Nationen mit der Bedrohung umgehen.

Das Impfen

Der Umgang mit Epidemien hat eine lange Geschichte. Seit der Antike gibt es Überlieferungen, wie Gemeinschaften mit Seuchen umgegangen sind. Schon sehr früh wurde das Verfahren der „Quarantäne“ (vierzig Tage Isolierung) verwendet. Ab dem späten 19ten Jahrhundert kamen dazu die Verfahren der Nachverfolgung von Kontakten, um Infektionsketten zu unterbrechen und wenig später die Möglichkeit der Impfung. Diese „Fortschritte“ machten einen guten Teil der sog. „Biopolitik“ aus – die Überwachung der Bürger*innen zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz der noch gesunden. Biopolitik ist eine Errungenschaft für das soziale Immunsystem.
Die „Technik“ der Impfung ist seit über einhundert Jahren bekannt und erfolgreich, z.B. gegen Pocken (gelten weltweit als ausgerottet), Kinderlähmung (in Deutschland so gut wie ausgerottet) und zahlreiche andere Erkrankungen. Hygienemaßnahmen und die Impfung sind historisch die erfolgreichsten (gesundheitserhaltenden) medizinischen Maßnahmen.
Das Prinzip der Impfung beruht darauf, dass das biologische Immunsystem des Menschen mit abgeschwächten Erregern trainiert wird. Auch moderne Impftechniken wie Vektor- oder mRNA-Impfstoffe nutzen dasselbe Trainings-Prinzip. Das führt häufig zu milden Krankheitssymptomen und manchmal zu schweren Nebenwirkungen. Das Verhältnis von Krankheitskomplikationen zu Impfkomplikationen zeigt, dass es sehr viel (Faktoren von 1000 und mehr) riskanter ist, krank zu werden, als sich impfen zu lassen.

Die Impfentscheidung

Entscheidungen werden entweder spontan, intuitiv, heuristisch, aus dem Bauch heraus getroffen – System 1; oder sie werden reflektiert und abgewogen nach Vernunftgründen, Fakten und plausiblen Prognosen getroffen – System 2. Ihrer Natur nach reichen Entscheidungen in die Zukunft, die letztlich nicht vorhersehbar ist. Eine Entscheidung für etwas zu treffen bedeutet automatisch, einen anderen Weg zu verwerfen. Unglücklicherweise gibt es so gut wie nie eine vollständige Daten- und Faktenkenntnis zu einer Situation, so dass in jeder Entscheidung ein Restrisiko von Irrtum verbleibt.
Entscheidungen, die nach System 1 getroffen wurden, suchen häufig nach (scheinbar) rationalen Begründungen. Wenn sich keine solchen finden lassen, wird gerne zu erfundenen Behauptungen (Fake-News) gegriffen.
Im Falle des Impfens gibt es nur zwei Möglichkeiten – entweder man tut es oder man lässt es sein. Mit den Folgen der Entscheidung muss aber nicht nur die Entscheiderin fertig werden – alle Menschen, mit denen sie in Kontakt kommt, sind von der Entscheidung mitbetroffen. Das gilt für alle Infektionskrankheiten, besonders für solche, die auch sehr milde Verläufe kennen, die davon Betroffenen aber trotzdem infektiös sind. Die Impfentscheidung steht also im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Gemeinwohl – ein Feld, das zu Polarisierungen führen kann.
Die Verantwortlichen im Gesundheitswesen und der Politik müssen ihrem Job gerecht werden und zu diesem gehört die Aufgabe, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Sie sind (z.T. gewählte) Vertreter*innen des Gemeinwohls, die die Interessen der Gemeinschaft durchsetzen sollen. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass sie zu den Maßnahmen greifen wollen, die sich in der Vergangenheit so gut bewährt haben – Information, Quarantäne, Kontakteinschränkung und -Nachverfolgung, Hygiene und wenn möglich Impfung.

Ein paar Gedanken zur „Mitte“

Seine Mitte zu finden, in der eigenen Mitte zu sein, ist eine Metapher für Zentrierung im eigenen Selbst – körperlich, emotional und geistig. Die körperliche Mitte könnte man mit dem Da-Sein in einem menschlichen Körper in Verbindung bringen – angemessen schlafen und wach-sein, sich angemessen ernähren, sich angemessen bewegen und ruhen etc. Die emotionale Mitte könnte mit dem Da-Sein als Kulturwesen assoziiert werden – angemessen emotional ansprechbar sein, über angemessene emotionale Ausdrucksfähigkeit verfügen, ebenso angemessene Empathie Fähigkeit etc. Die geistige Mitte könnte dann im Zusammenhang mit der Einmaligkeit gesehen werden – sich selbst als Mensch, Kulturwesen und Person zu begreifen, seine Eigenarten angemessen wertzuschätzen und zum Ausdruck zu bringen, angemessene personale Beziehungen führen zu können, sich als Teil einer größeren Gruppe zu verstehen etc.
Förderlich für die Mitte wäre auf körperlicher Ebene ein guter Selbstkontakt und gute Fähigkeiten der Selbstregulation. Auf emotionaler Ebene gute Empathie Fähigkeit, soziale Integrität und kommunikative Fähigkeiten. Auf geistiger Ebene zählen sicher solide Informationen, rationale Denkfähigkeiten und ein expliziter moralischer Kompass zur Pflege der Mitte bei.
Seine Mitte zu verlieren würde bedeuten, dass eine Person sich polarisiert, bzw. sich so verhält (handelt, fühlt, denkt), als gäbe es nur einen wahren Pol. Diese Situation kann verschiedene Anlässe haben. Im sozialen Feld geht es häufig um politische Positionen, Grundsatzfragen wie Gemeinwohl vs. Selbstbestimmung, Solidarität vs. Autonomie/Autarkie, Fortschritt vs. Konservatismus, Freiheit vs. Sicherheit usw. usf.

Vom rechten Maß

Bereits Aristoteles hat darauf aufmerksam gemacht, dass einzelne Tugenden und Werte sich zwangsläufig selbst entwerten, wenn sie nicht von Ergänzungswerten begrenzt werden. So wird die Tugend des Muts zur Tollkühnheit, wenn nicht gleichfalls die Tugend der Vorsicht beachtet wird. Ebenso wird Vorsicht zur Feigheit, wenn der Mut keine Rolle mehr spielt.
Da kulturelle Werte immer und zwangsläufig soziale Konstruktionen sind, lassen sie sich nicht objektivieren. Wenn sie aufeinanderprallen, prallen tatsächlich Welten aufeinander und häufig tritt der Fall ein, dass die eigene Position als unhinterfragbar richtig erscheint, so dass eine Beschäftigung mit der anderen Position nicht in Frage kommt. Der Mutige schimpft den Vorsichtigen Feigling und der Vorsichtige den Mutigen tollkühn.
Es bräuchte also zum einen eine Bereitschaft, seine eigene Position zu hinterfragen und ebenso die Bereitschaft, den anderen Blickwinkel einzunehmen. Falls auf beiden Seiten der Wille und die Fähigkeit vorhanden ist, auf Vernunftgründe einzugehen, könnte so eine Verständigung erreicht werden.

Ein Wort zur Meinungsfreiheit

Meinungsfreiheit halte ich für ein hohes Gut und es möge meinetwegen gerne jeder und jede seine oder ihre Meinung haben. Der Begriff Meinung enthält ja genau das „mein“, also das subjektive eigene Meinen. Eine Meinung lässt sich leicht haben. Ich sage einfach: „Ich meine: …“ und damit könnte es sich haben. Was nicht unbedingt offensichtlich ist, ist, dass Meinungen häufig eine Behauptung aufstellen. Exemplarisch könnte man das an der Meinung: „Ich meine, die Erde ist eine Scheibe.“ demonstrieren. Natürlich darf ein Mensch das meinen und behaupten, aber dann darf ein anderer Mensch auch die Behauptung nach ihren Gründen befragen, also: „Wie kommst Du zu dieser Behauptung?“ Geschulte Flacherdler können nun eine Fülle von Gründen vorbringen, die aber allesamt nicht den Ansprüchen von Wahrheit, Logik und Kohärenz genügen. Denn was macht eine gute Begründung aus? Sie kann sich auf Fakten berufen, also auf Tatsachen, die durch entsprechende Daten gestützt werden. Eine gute Begründung stützt sich auf wahre Aussagen über Sachverhalte. Im nächsten Schritt müssen nun noch Schlussfolgerungen daraus gezogen werden und diese müssen den Regeln der Logik folgen, wenn sie plausibel sein sollen.
Ich kenne die schöne Definition von Toleranz als: „Die Möglichkeit einzuräumen, dass ich mich auch irren kann.“ Irren ist menschlich und Irrtümer lassen sich überprüfen und rückgängig machen. Und ja, ich habe mich ebenfalls auf Irrtümer überprüft.