Wahrheit – Gewahr Sein

Aus der Stille steigt der Begriff der Wahrheit – der Faktizität auf, ich werde mir des Themas gewahr.

In meinem Selbstumgang kenne ich die Neigung, mir nicht über jeden Aspekt meines Innenlebens gewahr werden zu wollen. Unangenehme Aspekte verdränge ich manchmal oder brauche sogar eine Spiegelung von jemandem, damit ich mir meiner  selbst gewahr werden kann. Andererseits lebe ich auch nach dem Motto, mich nicht über mich selbst belügen zu wollen. Ich nehme mir also öfters die Zeit, mir die Geschichten, die ich mir über mich erzähle, auf Übertreibungen und Auslassungen zu überprüfen.

In meinem Beziehungsleben kenne ich die Thematik, dass ich nicht alles was mich beschäftigt mitteile. Wenn es darum geht, etwas anzusprechen, was die Beziehung betrifft brauche ich öfters eine gewisse Anlaufzeit, aber auch  hier habe ich den Anspruch an mich, aufrichtig sein zu wollen. Dispute über die Faktizität von erledigten oder nicht erledigten „Jobs“  meines Kindes, trainieren meine Geduld.

Wahrheit im sozialen Umfeld erscheint mir delikater. Wem gegenüber kann ich wie aufrichtig sein, ohne Nachteile befürchten zu müssen? Und: Wie kann ich meine Wahrnehmungen mitteilen, die mir Mitteilens wert erscheinen? Und auf meiner Seite – in wie weit kann ich meinen Mitmenschen in einem gegebenen Kontext vertrauen, dass sie aufrichtig zu mir sind? Fragen über Fragen und keine Patentlösung in Sicht.

Auf der Empfindungsebene stellt sich mit dem Begriff sofort eine Aufrichtung und Öffnung ein. Ich fühle mich wie innerlich geklärt, durchlässig und durchströmt.

Meine Stimmung wird ruhig, heiter bis zuversichtlich.

Ich denke, dass Wahrheit etwas über das „Wirklich Seiende“ aussagt. Wahrheit ist eine Bewertung über eine Aussage über etwas, das tatsächlich und faktisch stattfindet oder stattgefunden hat. Ich denke auch, dass Wahrheit nicht einfach nur in meinem Bewusstsein gefunden werden kann – es ist meine bewusste Wahrnehmung von etwas, das ich nicht selbst bin, das aber faktisch existiert (heraustritt). Dabei muss nicht alles, wessen ich  mir gewahr werde auch wahr sein. Ich bleibe ein für Irrtümer anfälliger Mensch.

Ich hege immer noch die Hoffnung, dass Wahrheit auch konsensfähig ist, dass die Offensichtlichkeit einer Wahrheit, den Blick auf die wirklich wichtigen Themen freigeben kann. Meine Ängste beziehen sich auf die inzwischen allgegenwärtigen „Fake-News“ und deren zerstörerisches Wirken im politischen Feld.

Ich werde weiter um die Wahrheit ringen und fühle mich bereit, für die Wahrheit notfalls zu streiten.

In der Abschlussstille fühle ich mich jetzt ernsthafter als zu Beginn. Aufgerichtet und immer noch offen erscheint so etwas wie ein Pflichtgefühl – der Wunsch und der Wille, die Wahrheit zu pflegen.

Wahrheit – Gewahr

Meine Stille schenkt mir heute einen anspruchsvollen Begriff. Die Wahrheit in meinem Selbstraum ist zunächst einmal meine Wahrheit. Meine (gerade) gültige Sichtweise meiner Wirklichkeit wie ich sie wahrnehme. So wie ich mich kenne würde ich sagen, dass meine Wahrheit von mir mitunter ein wenig schön gefärbt wird – die Wahrheit in Wahrheit also eine aufgehübschte Version meiner Wirklichkeit darstellt.

Solche Manöver scheitern grandios mit meiner Liebsten. Unsere Wahrheit entsteht in unseren Gesprächen über unsere Wirklichkeit, bzw. über unsere jeweiligen persönlichen Wahrheiten. Das fühlt sich mitunter unbequem an, wenn meine aufgehübschten Positionen an ihrer Wahrnehmung scheitern. Letztlich gewinne ich (und wir) aber dabei, wenn wir wieder ein Stück gemeinsame Wahrheit hergestellt haben.

Im sozialen Raum nehme ich im Moment einen Wettkampf um die Wahrheit wahr. Alle möglichen Gruppierungen und Parteien möchten etwas über die WAHRHEIT erzählen, in der festen Überzeugung, dass sie die Wahrheit gepachtet hätten und dass die anderen Wahrheiten natürlich Unsinn sind. Ich fühle mich öfters mehr als leicht genervt darüber.

Auf der Empfindungsebene sammelt sich meine Aufmerksamkeit im Becken und den Hüftgelenken. Meine Atmung wird flacher, meine Augenbewegungen nehmen zu.

Emotional ist das von einer unbestimmten Ängstlichkeit begleitet (auf einer Metaebene bin ich überrascht von diesen Wahrnehmungen).

Ich denke, dass Wahrheit ein sehr vielseitig verwendbarer Begriff ist. Von der axiomatisch, formalen Wahrheit (x = x), über die Aussagenlogik: „Eine Aussage wie: „Es regnet.“ Ist dann wahr, wenn es draußen regnet. Bis zur Wahrheit entsprechend verschiedener Wirklichkeitsräume – meine Gedanken sind wahr, aber von einer anderen Art von Wahrheit, als wenn ich diese Gedanken jetzt hier niederschreibe. Wenn meine Gedanken dann von mehreren Menschen gelesen und diskutiert werden ergibt sich eine neue Art von Wahrheit. Ein und dieselbe Wirklichkeit – z.B. eine Million Flüchtlinge in Deutschland – ergibt eine Fülle von möglichen Wahrheiten über diese Tatsache.

Ich hoffe sehr, dass meine Wahrheiten nicht zu sehr von den Tatsachen abweichen, bzw. die Aspekte der Tatsachen berücksichtigen die auch tatsächlich relevant für mich sind. Ich erhoffe mir auch den Mut, für meine Wahrheiten einzustehen, gerade im sozialen Raum, in dem so viel Schindluder mit diesem Begriff betrieben wird. Meine Befürchtung ist, dass sich zu viele Menschen von vermeintlich „einfachen Wahrheiten“ einfangen lassen und diese einfachen Wahrheiten dann zum Anlass für einfach nur dumme Handlungen nehmen.

Ich erstrebe eine ständige kritische Distanz zu allen Wahrheiten, die mir begegnen – kritisch im Sinne von unterscheidend zwischen verschiedenen Perspektiven.

In der Abschlussstille macht sich wieder mein Becken bemerkbar. Jetzt mehr mit der Rückseite und von dort nehme ich eine Kraft wahr, die mir helfen will für meine Wahrheit einzustehen.