Realming und Impfen

Dieser Text ist aus einem Workshop entstanden, in dem die Teilnehmerinnen ihre Schwierigkeiten bezüglich der Corona Situation formuliert haben. Insbesondere das Gefühl, dass es schwierig sei, in seiner Mitte zu bleiben.

Sachstandsbeschreibung

Die Bereiche von Realming – Ich mit mir, Dir und euch – sind in die umfassendere Umgebung der Natur eingebettet. In dieser Biosphäre (Geosphäre, Atmosphäre) gibt es Phänomene, die eigengesetzlich auftreten – ein Vulkanausbruch, ein Unwetter und auch Wölfe, Bären, Bakterien oder Viren. Es gehört zur Evolution der menschlichen Gattung, dass Menschen Wege gefunden haben, mit solchen Phänomenen umzugehen. Naturkatastrophen waren schon immer eine treibende Kraft für den Erfindungsreichtum und die Weiterentwicklung menschlicher Kulturen.
Das Phänomen Corona entstammt der Biosphäre. Seine besondere Qualität ist, dass es neuartig ist. Kein menschliches Immunsystem kann darauf vorbereitet sein. In der Folge hat das zu einer Pandemie geführt, einer weltweit auftretenden Erkrankung mit teils schweren Verläufen und tödlichem Ausgang. Der Umstand, dass das Virus über Tröpfchen durch die Luft übertragen werden kann, macht es extrem ansteckend. Das bringt die Gefahr mit sich, dass innerhalb sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen, sehr krank werden können (was genau so auch geschehen ist und immer noch geschieht). Das wiederum bringt nicht nur das Gesundheitssystem an und über den Rand seiner Leistungsfähigkeit, sondern führt auch in vielen anderen Lebensbereichen zu Problemen v.a. unbesetzte Arbeitsplätze können zu fatalen Wirkungsketten führen – die berühmt gewordenen systemrelevanten Jobs.
Virusinfektionen (auch mit neuartigen Viren) werden entweder mit mehr oder weniger schweren Symptomen durchgestanden und sie können auch zum Tod der Infizierten führen. Die Entdeckung, dass Viren der Auslöser von so spektakulären Krankheiten wie Pocken sind, war ein gewaltiger Fortschritt für die Medizin. Fast zur gleichen Zeit wurde auch das Prinzip der Impfung entdeckt. Und ebenfalls von Beginn an, wurde die Impfung mit Misstrauen betrachtet.

Immunsysteme

Der individuelle Mensch verfügt über eine biologisches Immunsystem – die unspezifische und die spezifische Abwehr, die dem biologischen System Mensch helfen, schädliche Einflüsse wie Viren, Bakterien, Parasiten etc. zu widerstehen. Derselbe Mensch hat auch ein psychisches Abwehrsystem, das ihm dabei hilft, schwer erträgliche Situationen durchzustehen. Zu guterletzt gibt es dann noch ein soziales Immunsystem, das durch solidarisches Handeln hilft, mit schwierigen Situationen wie Katastrophen fertig zu werden.
Darin lassen sich drei Aspekte des Mensch-Seins auffinden: Alle Menschen sind gleich, weil sie biologische Wesen sind. Einige Menschen sind einander ähnlich, weil sie derselben Kultur angehören. Und alle Menschen sind einmalig, weil sie ein persönliches Bewusstsein haben. Diese drei Aspekte sind immer gegeben, wenn sie auch unterschiedlich betont und gelebt werden. In der westlichen Kulturtradition wird die Einmaligkeit, der Individualismus für sehr wichtig genommen. In asiatischen Kulturtraditionen wird eher die Gemeinschaft für sehr wichtig genommen.
Der Fall der Pandemie betrifft alle drei Aspekte des Mensch-Seins. Der einzelne Mensch kann sich infizieren und andere anstecken. Die verschiedenen Nationen finden unterschiedliche Möglichkeiten, auf das Virus einzugehen. Und weil es eine Pandemie ist, sind alle Erdenbürger davon betroffen, auch davon, wie einzelne Nationen mit der Bedrohung umgehen.

Das Impfen

Der Umgang mit Epidemien hat eine lange Geschichte. Seit der Antike gibt es Überlieferungen, wie Gemeinschaften mit Seuchen umgegangen sind. Schon sehr früh wurde das Verfahren der „Quarantäne“ (vierzig Tage Isolierung) verwendet. Ab dem späten 19ten Jahrhundert kamen dazu die Verfahren der Nachverfolgung von Kontakten, um Infektionsketten zu unterbrechen und wenig später die Möglichkeit der Impfung. Diese „Fortschritte“ machten einen guten Teil der sog. „Biopolitik“ aus – die Überwachung der Bürger*innen zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz der noch gesunden. Biopolitik ist eine Errungenschaft für das soziale Immunsystem.
Die „Technik“ der Impfung ist seit über einhundert Jahren bekannt und erfolgreich, z.B. gegen Pocken (gelten weltweit als ausgerottet), Kinderlähmung (in Deutschland so gut wie ausgerottet) und zahlreiche andere Erkrankungen. Hygienemaßnahmen und die Impfung sind historisch die erfolgreichsten (gesundheitserhaltenden) medizinischen Maßnahmen.
Das Prinzip der Impfung beruht darauf, dass das biologische Immunsystem des Menschen mit abgeschwächten Erregern trainiert wird. Auch moderne Impftechniken wie Vektor- oder mRNA-Impfstoffe nutzen dasselbe Trainings-Prinzip. Das führt häufig zu milden Krankheitssymptomen und manchmal zu schweren Nebenwirkungen. Das Verhältnis von Krankheitskomplikationen zu Impfkomplikationen zeigt, dass es sehr viel (Faktoren von 1000 und mehr) riskanter ist, krank zu werden, als sich impfen zu lassen.

Die Impfentscheidung

Entscheidungen werden entweder spontan, intuitiv, heuristisch, aus dem Bauch heraus getroffen – System 1; oder sie werden reflektiert und abgewogen nach Vernunftgründen, Fakten und plausiblen Prognosen getroffen – System 2. Ihrer Natur nach reichen Entscheidungen in die Zukunft, die letztlich nicht vorhersehbar ist. Eine Entscheidung für etwas zu treffen bedeutet automatisch, einen anderen Weg zu verwerfen. Unglücklicherweise gibt es so gut wie nie eine vollständige Daten- und Faktenkenntnis zu einer Situation, so dass in jeder Entscheidung ein Restrisiko von Irrtum verbleibt.
Entscheidungen, die nach System 1 getroffen wurden, suchen häufig nach (scheinbar) rationalen Begründungen. Wenn sich keine solchen finden lassen, wird gerne zu erfundenen Behauptungen (Fake-News) gegriffen.
Im Falle des Impfens gibt es nur zwei Möglichkeiten – entweder man tut es oder man lässt es sein. Mit den Folgen der Entscheidung muss aber nicht nur die Entscheiderin fertig werden – alle Menschen, mit denen sie in Kontakt kommt, sind von der Entscheidung mitbetroffen. Das gilt für alle Infektionskrankheiten, besonders für solche, die auch sehr milde Verläufe kennen, die davon Betroffenen aber trotzdem infektiös sind. Die Impfentscheidung steht also im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Gemeinwohl – ein Feld, das zu Polarisierungen führen kann.
Die Verantwortlichen im Gesundheitswesen und der Politik müssen ihrem Job gerecht werden und zu diesem gehört die Aufgabe, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Sie sind (z.T. gewählte) Vertreter*innen des Gemeinwohls, die die Interessen der Gemeinschaft durchsetzen sollen. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass sie zu den Maßnahmen greifen wollen, die sich in der Vergangenheit so gut bewährt haben – Information, Quarantäne, Kontakteinschränkung und -Nachverfolgung, Hygiene und wenn möglich Impfung.

Ein paar Gedanken zur „Mitte“

Seine Mitte zu finden, in der eigenen Mitte zu sein, ist eine Metapher für Zentrierung im eigenen Selbst – körperlich, emotional und geistig. Die körperliche Mitte könnte man mit dem Da-Sein in einem menschlichen Körper in Verbindung bringen – angemessen schlafen und wach-sein, sich angemessen ernähren, sich angemessen bewegen und ruhen etc. Die emotionale Mitte könnte mit dem Da-Sein als Kulturwesen assoziiert werden – angemessen emotional ansprechbar sein, über angemessene emotionale Ausdrucksfähigkeit verfügen, ebenso angemessene Empathie Fähigkeit etc. Die geistige Mitte könnte dann im Zusammenhang mit der Einmaligkeit gesehen werden – sich selbst als Mensch, Kulturwesen und Person zu begreifen, seine Eigenarten angemessen wertzuschätzen und zum Ausdruck zu bringen, angemessene personale Beziehungen führen zu können, sich als Teil einer größeren Gruppe zu verstehen etc.
Förderlich für die Mitte wäre auf körperlicher Ebene ein guter Selbstkontakt und gute Fähigkeiten der Selbstregulation. Auf emotionaler Ebene gute Empathie Fähigkeit, soziale Integrität und kommunikative Fähigkeiten. Auf geistiger Ebene zählen sicher solide Informationen, rationale Denkfähigkeiten und ein expliziter moralischer Kompass zur Pflege der Mitte bei.
Seine Mitte zu verlieren würde bedeuten, dass eine Person sich polarisiert, bzw. sich so verhält (handelt, fühlt, denkt), als gäbe es nur einen wahren Pol. Diese Situation kann verschiedene Anlässe haben. Im sozialen Feld geht es häufig um politische Positionen, Grundsatzfragen wie Gemeinwohl vs. Selbstbestimmung, Solidarität vs. Autonomie/Autarkie, Fortschritt vs. Konservatismus, Freiheit vs. Sicherheit usw. usf.

Vom rechten Maß

Bereits Aristoteles hat darauf aufmerksam gemacht, dass einzelne Tugenden und Werte sich zwangsläufig selbst entwerten, wenn sie nicht von Ergänzungswerten begrenzt werden. So wird die Tugend des Muts zur Tollkühnheit, wenn nicht gleichfalls die Tugend der Vorsicht beachtet wird. Ebenso wird Vorsicht zur Feigheit, wenn der Mut keine Rolle mehr spielt.
Da kulturelle Werte immer und zwangsläufig soziale Konstruktionen sind, lassen sie sich nicht objektivieren. Wenn sie aufeinanderprallen, prallen tatsächlich Welten aufeinander und häufig tritt der Fall ein, dass die eigene Position als unhinterfragbar richtig erscheint, so dass eine Beschäftigung mit der anderen Position nicht in Frage kommt. Der Mutige schimpft den Vorsichtigen Feigling und der Vorsichtige den Mutigen tollkühn.
Es bräuchte also zum einen eine Bereitschaft, seine eigene Position zu hinterfragen und ebenso die Bereitschaft, den anderen Blickwinkel einzunehmen. Falls auf beiden Seiten der Wille und die Fähigkeit vorhanden ist, auf Vernunftgründe einzugehen, könnte so eine Verständigung erreicht werden.

Ein Wort zur Meinungsfreiheit

Meinungsfreiheit halte ich für ein hohes Gut und es möge meinetwegen gerne jeder und jede seine oder ihre Meinung haben. Der Begriff Meinung enthält ja genau das „mein“, also das subjektive eigene Meinen. Eine Meinung lässt sich leicht haben. Ich sage einfach: „Ich meine: …“ und damit könnte es sich haben. Was nicht unbedingt offensichtlich ist, ist, dass Meinungen häufig eine Behauptung aufstellen. Exemplarisch könnte man das an der Meinung: „Ich meine, die Erde ist eine Scheibe.“ demonstrieren. Natürlich darf ein Mensch das meinen und behaupten, aber dann darf ein anderer Mensch auch die Behauptung nach ihren Gründen befragen, also: „Wie kommst Du zu dieser Behauptung?“ Geschulte Flacherdler können nun eine Fülle von Gründen vorbringen, die aber allesamt nicht den Ansprüchen von Wahrheit, Logik und Kohärenz genügen. Denn was macht eine gute Begründung aus? Sie kann sich auf Fakten berufen, also auf Tatsachen, die durch entsprechende Daten gestützt werden. Eine gute Begründung stützt sich auf wahre Aussagen über Sachverhalte. Im nächsten Schritt müssen nun noch Schlussfolgerungen daraus gezogen werden und diese müssen den Regeln der Logik folgen, wenn sie plausibel sein sollen.
Ich kenne die schöne Definition von Toleranz als: „Die Möglichkeit einzuräumen, dass ich mich auch irren kann.“ Irren ist menschlich und Irrtümer lassen sich überprüfen und rückgängig machen. Und ja, ich habe mich ebenfalls auf Irrtümer überprüft.

Realming und Corona

zweigt wie Corona die Erde erfasst hat

Realming bietet ein Modell zur existenziellen Orientierung. Das bedeutet, dass Realming die menschliche Existenz, die Gewissheit des eigenen Da-Seins, als sicheren und gewissen Ausgangspunkt für seine Betrachtungen nutzt. In einer Zeit, in der gesichertes Wissen, also Gewissheiten, immer schwieriger von schlichten Meinungen und Lügen unterschieden werden können, erscheint mir das als eine sehr hilfreiche Perspektive.
Die Fragen, die Realming stellt, lauten einfach: Was braucht es notwendig, damit ein Mensch als Mensch leben kann? Oder auch: Welche Aufgaben muss ein Mensch verpflichtend erfüllen, um am Leben zu bleiben? Die Antworten auf die erste Frage lauten: Menschen brauchen eine Umgebung, sie brauchen einen Körper und ein Bewusstsein. Die Antworten auf die zweite Frage sind: Menschen müssen sich von den Umgebungen abgrenzen, sich mit ihnen austauschen und diese Prozesse müssen reguliert werden.
Das sind natürlich sehr abstrakte Betrachtungen, aber mit dem Phänomen Corona lassen sie sich gut veranschaulichen.

Die Umwelten

Corona ist ein Phänomen der Umwelt. Diese Umwelt weist zunächst physikalische Aspekte auf – also die Erde an sich, das Klima, die Schwerkraft, eben alles was in der physikalischen Welt der Ursachen verankert ist.
Zur Umwelt gehört natürlich auch der ganze Bereich der Biologie – das Leben an sich, das uns Menschen im Verlauf der Evolution erst hervorgebracht hat. Diese biologische Umwelt ist also die notwendige Grundlage jeglicher menschlichen Existenz. Insbesondere die Biosphäre stellt uns Sauerstoff und Nahrung zur Verfügung, aber sie bietet natürlich auch Stechmücken, Zecken, Bakterien und Viren.
Eine weitere Umwelt stellt das soziale Gefüge dar. Menschen sind zutiefst, und biologisch bestimmt, soziale Wesen. Ohne soziales Gefüge gäbe es keine Sprache, keine Kultur und keine technologische Entwicklung. Mit der Kultur begann die Kulturelle Evolution, die bis heute anhält.
Für den einzelnen Menschen ist eine weitere grundlegende Umgebung die bedeutsame Beziehung zu einem Mitmenschen. Ausgehend von der Bindungsbeziehung sind die uns nahen Menschen notwendig dafür, dass wir uns zu bewussten und vernunftbegabten Personen entwickeln können.
Keine dieser drei Umwelten ist verzichtbar. Auch nicht die letzte, denn die nahen Menschen leben auch dann in unserem Bewusstsein, wenn sie körperlich abwesend sind.

Die Lebenspflichten

Um am Leben zu bleiben, müssen alle Lebewesen, also auch Menschen, sich von der Umwelt abgrenzen. Schädliches muss möglichst draußen gehalten werden, bekömmliches soll hereinkommen, überflüssiges wieder ausgeschieden werden. Das heißt, über die Grenzen hinweg, bzw. durch sie hindurch muss ein Austausch erfolgen. Dieser Austausch muss in irgendeiner Form so geregelt werden, dass das Leben bewahrt wird.
Man könnte das menschliche Immunsystem als eine Art innere Grenze betrachten. Partikel, die über Hautöffnungen in den Organismus gelangt sind, können erkannt und neutralisiert werden. Das funktioniert um so besser, je bekannter die Eindringlinge schon sind. Bei neuen und unbekannten Invasoren kann diese innere Grenze versagen.
Im schlimmsten Fall dringt das Corona Virus in die Lungen vor, und zerstört deren Fähigkeit zum Gasaustausch, der infizierte Mensch droht zu ersticken. Zum Glück wird das menschliche Immunsystem von einem sozialen Immunsystem unterstützt. Medizinisches Knowhow und Versorgung können den betroffenen Menschen helfen. Epidemiologisches Knowhow kann dabei helfen, weitere Ansteckungen zu verringern. Falls dann der Erkrankte auch noch über ein stabiles psychisches Abwehrsystem verfügt, hat er gute Chancen, die Krankheit zu überstehen.

Bewusstsein kann Orientierung geben

Auch das menschliche Bewusstsein ist nicht ohne Voraussetzungen. Bevor etwas bewusst werden kann, muss es bemerkt werden. Im nächsten Schritt muss die Relevanz des Bemerkten eingeschätzt, also bewertet werden, und nur wenn eine Handlungsoption gegeben ist, kann es voll und ganz bewusst werden.
Im Falle des am Corona Virus erkrankten Menschen, gibt es Husten, Fieber etc., was nicht unbemerkt bleibt. Was ist die Ursache dieser Krankheit? Die Virologie kann Auskunft geben – es gibt eine neue Variante des Corona Virus. Die Bewertung fällt nicht schwer, eine Ansteckung ist bestenfalls lästig und schlimmstenfalls tödlich, das Virus also eher schlecht für Menschen.
Etwas anspruchsvoller wird jetzt der Umgang mit dem Erreger. Es gibt zunächst weder wirksame Medikamente noch eine Impfung gegen ihn. Es müssen erst Erfahrungen gesammelt werden. Experimente müssen designt, durchgeführt und ausgewertet werden, Substanzen getestet und Behandlungen erprobt. Bis eine wirksame Therapie gefunden wird, kann es zunächst nur darum gehen, die Verbreitung des Virus aufzuhalten.

Herausforderung

Wenn Grenzen überwunden werden, wird das Leben bedroht. Das Corona Virus kann den sozialen und den biologischen Schutzwall überwinden. Diese Bedrohung erzeugt zuverlässig Angst und Angst beeinträchtigt zuverlässig das vernünftige Denken. Damit bedroht die Pandemie auch das psychische Immunsystem.
Die derzeit einzige Möglichkeit, die Bedrohung zu minimieren, besteht darin, den sozialen Austausch herunterzuregeln, und damit die Übertragungen zu erschweren. Und auch das kann die psychische Regulation massiv in Mitleidenschaft ziehen.
Es ist ziemlich schwierig, nichts anderes gegen eine Bedrohung unternehmen zu können, als meistens Zuhause zu bleiben und draußen eine Maske zu tragen.
Es kann helfen, sich einen Moment zurückzulehnen, die Augen zu schließen, wahrzunehmen, dass man atmet, und sich dabei mit der Wirklichkeit der eigenen Existenz verbindet.
„Ich bin jetzt hier!“ ist eine Aussage, die helfen kann, den Blick wieder zu klären. Diese innere Handlung schafft einen Raum, der die Orientierungsfähigkeit unterstützt. Aus dieser Perspektive werden Gefahren angemessen wahrgenommen und die notwendigen Handlungen plausibel.

Vor dem neuen Schritt, ein Blick zurück

„Wer neu anfangen will, ist gut damit beraten zurückzuschauen“

Aber warum oder wozu sollte man überhaupt neu anfangen wollen?

Es mag vielleicht damit zusammenhängen, dass die Situation auf der Erde immer verwirrender erscheint. Da zerbröselt eine Nachkriegsordnung, an der man sich fast fünfzig Jahre lang orientieren konnte. Da erinnern uns brennende Wälder rund um den Globus daran, dass das Klima sich rasant verändert, und nun kommt auch noch Corona dazu – die pandemische Seuche, deren Bekämpfung die Gesellschaften weltweit herausfordert.
Im „World Wide Web“ der globalisierten Welt wachsen die Diskussionen über all das ins Uferlose. Studien, Gegenstudien, Meinungen, Neuigkeiten, Entdeckungen und jede Menge Hass, Lügen und Abwertungen. Wem soll man glauben? Wem kann man glauben? Wer hat Recht? Wer hat welches Interesse? Was ist der Unterschied zwischen einer Meinung und einem Argument? Warum sind „Alternative Fakten“ keine Fakten und ein Gefühl kein Argument?
Dieses Tohuwabohu verletzt das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Orientierung. Die Orientierung zu verlieren induziert Angst. Wie soll ich sinnvoll entscheiden, was ich tun soll? Was wird als Nächstes auf mich zukommen? Um der Angst zu entkommen erscheint fast jede Erklärung recht. Wenn ich nur genügend Menschen finde, die meine Meinung teilen, fühle ich mich vielleicht etwas sicherer, aber zumindest wird die Angst gedämpft.
Die Größenordnung der Herausforderungen verletzt auch das menschliche Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit. Was können Einzelne denn gegen den Klimawandel tun, gegen politisch Größenwahnsinnige, gegen ein unsichtbares Virus? Und auch hier kann die Suche nach ähnlich Ohnmächtigen hilfreich erscheinen. „Aktionen!“ heißt dann das gemeinsame Motto. Petitionen, Demonstrationen, Kampagnen – Hauptsache es gibt etwas zu tun, so dass die Ohnmacht in den Hintergrund rückt.

Betroffenheit

Aber globale Vorfälle mischen sich in der Regel nur unmerklich in das Alltagsleben ein (zumindest hierzulande). Alltägliche Herausforderungen gibt es bereits zur Genüge – mit der Gesundheit, mit Partnern, Kindern, im Beruf, in der Freizeit oder direkt in der Stadt oder Gemeinde – die kleineren oder größeren Sorgen, mit denen Menschen sich so herumplagen.
Es scheint aber eine Art Ansteckung stattzufinden. Der raue Ton, der an der Computertastatur angeschlagen wird, wird zum Geschrei bei der nächstbesten Diskussion oder Demonstration. Und das laute Schreien führt dazu, dass nicht mehr zugehört werden kann. Man hält sich gewissermaßen die Ohren zu und versucht lauter als ein anderer zu sein – „Wenn ich schreie, habe ich Recht!“
Und es gibt noch eine weitere Einsicht, die mehr und mehr um sich greift: „So kann es nicht weitergehen!“ Etwas ist schon dabei, sich merklich zu verändern und das erzwingt bereits eine Veränderung bei den Betroffenen. Und nun könnte die Frage auftauchen: „Wie könnte ich etwas anders machen, etwas Neues anfangen, das Bestehende kreativ verändern, dem äußeren Zwang zuvorkommen und selbst gestalten was mir in meinen Grenzen möglich ist?“

Rückschau für den Fortschritt

Dass ich als Einzelner ziemlich machtlos vor den globalen Herausforderungen stehe, erscheint offensichtlich. Physikalische und Soziale Realitäten sind massiv und widerständig. Aber an manchen Stellen mag es möglich sein, sich diese Realitäten passender zu machen, sie zu assimilieren. Und wo das nicht möglich ist, kann ich mich vielleicht selbst ein wenig passender machen, mich akkommodieren. Das Ziel wäre eine möglichst bekömmliche Anpassung an das was wirklich ist.
Aber wie kann das gehen, sich die Welt passend machen, sich Umständen anpassen? Ich denke, zurückzuschauen hilft dabei diese Fragen zu beantworten. Sehen, was ich erlernt und erworben habe; erkennen, was ich weiß und was ich nicht weiß; eine Bestandsaufnahme meiner Fähigkeiten machen, meiner Qualitäten ebenso wie meiner Unsicherheiten und Wissenslücken.
Diese Rückschau reicht zurück bis in die Kindheit, denn dort beginnen Menschen, das Bild von sich selbst, von anderen Menschen und von der Welt zu entwickeln. Die Erfahrungen aus dieser Zeit beeinflussen die Perspektiven der Gegenwart, färben die Vorstellungwelt, und bestimmen die Handlungsmöglichkeiten mit. Erfahrungen, die nicht gemacht werden konnten, kommen in diesem Spektrum eher nicht vor.

Realming

Mit der Rückschau verändert sich das Bild der Gegenwart. Grenzen werden klarer, Austauschmöglichkeiten stimmiger und Regulationen souveräner. Die Orientierung nimmt zu, die Selbstwirksamkeit verbessert sich und die Werte bekommen eine passende Ordnung. Es wird leichter, gut bei sich zu sein und gut mit und in der Welt zu sein.
Je turbulenter das Weltgeschehen wird, desto hilfreicher ist es, seine Fähigkeiten zu entwickeln, seine Selbstkenntnis zu erweitern und Mittel und Wege zu kennen, seinen guten Platz zu finden und zu behalten.
Realming bietet ein System von erprobten Methoden für die Rückschau, und ein übersichtliches Modell von Sein und Werden.

Infotag und Mini-Workshop am 06.02.21 von 14 – 18 Uhr in Freiburg

Realming und Bedürfnisse II

Mittelbare Hilfs-Bedürfnisse

Die Aktivierung und die Erfüllung/Nicht-Erfüllung der angeborenen Bedürfnisse finden in Beziehungsräumen statt (die in soziale Kontexte eingebunden sind). Auf dem Weg zum Spracherwerb werden die Erfahrungen mit den Bedürfnissen von Gefühlen begleitet. Gefühle helfen uns, uns in der Welt zu orientieren. Sie informieren uns darüber, wie wir etwas finden. Unter anderem informieren sie uns auch darüber, ob ein Bedürfnis gestillt wurde oder unerfüllt geblieben ist.
Davon ausgehend, dass die Bedürfnisse angeboren und lebensnotwendig sind, wird es plausibel, dass nicht erfüllte Bedürfnisse starke Gefühle auslösen. Die An- und Aufnahme der Gefühle durch eine Bezugsperson wird so ein mittelbares Bedürfnis, bevor das eigentliche Bedürfnis erfüllt werden kann. Man könnte auch sagen, dass es ein Bedürfnis nach emotionaler Aufnahme, ja nach Mitgefühl gibt.

Die „Sprache“ der Gefühle muss allerdings zunächst erlernt werden. Dazu braucht es einen genügend kompetenten Mitmenschen, der die Gefühle zutreffend erkennt, sie benennt, aufnimmt und mit kleinen Veränderungen zurückspiegelt, also ein Mensch, der zu Resonanz fähig ist.

Verletzte Bedürfnisse

Verletzte, unerfüllte Bedürfnisse lassen sekundäre, bzw. mittelbare Bedürfnisse entstehen. Aber die Befriedigung der sekundären Bedürfnisse kann nicht gleichzeitig das eigentlich frustrierte Bedürfnis stillen. Wenn z.B. das Bedürfnis nach Integrität, also Unversehrtheit verletzt wird – sei es durch einen Unfall, durch Gewalt oder Bedrohung, so wird das Gefühl der Angst auftauchen. Bezugspersonen sind nun aufgefordert, die Bedrohung abzuwehren, für Schutz zu sorgen, die Verletzung zu behandeln.
Eine angemessene Versorgung dieser Verletzung wird dann kaum Spuren hinterlassen und wenn, dann nur die Erfahrung, dass es Hilfe und Unterstützung gibt. Aber was, wenn keine angemessene Versorgung geboten wird? Dann wird sich tendenziell eine verlängerte Suche nach Versorgung und Schutz einstellen. Ein mittelbares Bedürfnis kann entstehen, das, statt nach (autonomer) Integrität, nach Schutz und Versorgung durch andere sucht.

Mittelbare Bedürfnisse

Solche mittelbaren Bedürfnisse können in allen neun Bereichen entstehen, wenn, v.a. während der Kindheit, große Frustrationen erfahren werden. Sie können ein großes Hindernis auf dem Weg zu einem befriedigenden Leben werden. Sie können das Verhältnis zum eigenen Leib ebenso beeinträchtigen, wie das Beziehungsleben und die soziale Teilhabe.
Jedes Mal, wenn ein mittelbares Bedürfnis befriedigt wird, bleibt ein schaler Geschmack zurück. > OK, ich wurde beschützt, getröstet, bekam Hilfe, Halt und Trost, Zuwendung, Erläuterung, Aufmerksamkeit und Erklärungen, aber ich bin unfähig, mit gleicher Münze zurückzuzahlen – ich bleibe bedürftig, fühle mich klein, schwach und hilflos <
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Der Weg zurück

Der Grad und das Ausmaß einer solchen Belastung sind natürlich sehr verschieden von Mensch zu Mensch. Und die gute Nachricht ist, dass die angeborenen Bedürfnisse noch da sind. Dass Problem ist nur, dass ihre Erfüllung nicht mehr erkannt werden kann. Die Ruhe der Sicherheit, die Befriedigung des Fließgleichgewichts, der Stolz der Selbstwirksamkeit, die Erfüllung einer Bindung, der Genuss der Gegenseitigkeit, das Berührt-Sein von Aufrichtigkeit, die Würde der Zugehörigkeit, die Verantwortung der Mitbestimmung, die Klarheit der Ordnung.

Realming und Bedürfnisse I

Das endlose Band der Bedürfnisse

Realming bietet eine Systematik zur Entwicklung der menschlichen Potenziale. Die Systematik orientiert sich an den Grundlagen und Notwendigkeiten des menschlichen Da-Seins.
Realming verfolgt dazu den Prozess der Raumbildung. Raumbildung ist ein, wenn nicht das zentrale Merkmal des Lebens. Erst in einem umgrenzten Raum können sich die Prozesse abspielen, die wir lebendig nennen. Die belebten Räume befinden sich in vielfältigen Umwelten.
Realming betrachtet „Raum“ in mehreren Dimensionen. Zunächst den physikalischen Raum, in dem alle Vorkommnisse stattfinden. Weiter den leiblichen Raum, mit und in dem alle Vorkommnisse erlebt werden. Und noch weiter den psychischen Raum, der den Vorkommnissen Sinn und Qualität verleiht. Auf einer höheren Stufe geht es auch um persönliche Räume, Beziehungsräume, sowie soziale, kulturelle und mentale Räume. Alle diese Räume durchdringen einander und beeinflussen sich gegenseitig.
Menschen sind bedürftig. Wie jedes Lebewesen brauchen Menschen ihre arttypischen Bedürfniserfüllungen um überleben zu können. Das wären zunächst die physikalisch-physiologischen Bedürfnisse wie Atemluft, Nahrung, Wasser, Schutz vor Feinden und Umwelteinflüssen. Für viele Arten kommen Bedürfnisse der Nachkommen mit ins Spiel, also Fortpflanzung, Brutpflege und Aufzucht. Falls es sich um sozial lebende Tiere handelt geht es auch um Platz und Rang in der Herde oder Gruppe. Diese Bedürfnisse müssen erfüllt sein, damit weitere, typisch menschliche Bedürfnisse erscheinen können. Erst ab dieser Stufe lassen sich Potenziale erkennen und entwickeln.

Bedürfnisse

Unter einem Bedürfnis kann ein Begehren nach etwas verstanden werden, etwas wie ein Wunsch, ein Verlangen, und manchmal eine Not. In der Regel lassen sich Bedürfnisse nur in der Außen-, Um- und Mitwelt erfüllen. Aus Sicht der Gestalttherapie drängt das Bedürfnis mit einer körperlichen Unruhe ins Bewusstsein, das dann als Bedürfnis identifiziert werden muss. Darauf kann eine Orientierung erfolgen und weiter eine Bewegung zu einer Quelle der Bedürfnisbefriedigung. Das Objekt des Bedürfnisses kann aufgenommen und die Aufnahme genossen werden – das Bedürfnis ist befriedigt und Ruhe kehrt ein. Bedürfnisse sind also so etwas wie innere Antriebe oder Motivationen, sich auf die Welt auszurichten.
Diese „Welt“ besteht aus den vorgefundenen Kontexten, die qualitativ sehr unterschiedlich ausfallen können. Die notwendigen Kontexte sind der eigene Körper, die Bezugspersonen und das soziale Umfeld. Diese Kontexte wirken auf- und ineinander, sie sind unterscheidbar aber nicht zu trennen.

Angeborene Bedürfnisse

Realming wählt also die Perspektive des inneren Antriebs, bezogen auf die Abgrenzungspflicht, die Austauschpflicht und die Pflicht zur Regulation (Diese sind für die Erhaltung des Lebens notwendig). Damit gibt es ein Bedürfnis nach Erhalt der Grenze, ein Bedürfnis nach Austausch und ein Bedürfnis nach Regulation.
Da diese drei Pflichten in allen Kontexten bestehen gibt es Grenzbedürfnisse bezogen auf den eigenen Leib, auf die bedeutsamen Beziehungen und auf das soziale Umfeld. Dasselbe gilt für den Austausch und die Regulation.
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Die Begriffe in der Tabelle umschreiben die angeborenen, vorsprachlichen Bedürfnisse. Sie sind so gesehen eine Art Kompass für das Leben. Sie wahrzunehmen, ihre Botschaften zu verstehen gibt Orientierung. Sie zu stillen vermittelt Selbstwirksamkeit und Kontrolle. Damit wird das Selbstwertgefühl gestärkt und das Leben kann sich gut anfühlen.