Realming, Freiheit und Bewusstsein

Die Lage

Freiheitsphilosophen – auch wenn es Freizeit Philosophen sind – haben es derzeit schwer, die Freiheit zu verteidigen. Auf der einen Seite lagern konstruktivistische und poststrukturalistische Philosoph*innen und Soziolo*innen, für die jede Wahrnehmung nur eine Konstruktion des Gehirns ist. Für sie gibt es keinen Zugang zu einer irgendwie gearteten Realität (und wenn, ist sie ausschließlich sozial konstruiert) – Freiheit ist allenfalls eine Illusion.
Auf der anderen Seite, mit schweren naturwissenschaftlichen Geschützen ausgerüstet die Neurobiologie und –Psychologie. Diese kann inzwischen schon die politische Gesinnung durch einen Hirn Scan feststellen (große Amygdala > Konservativ, großer ACC/PFC > Liberal). Seit mittlerweile Jahrzehnten wird das Gehirn vermessen und gescannt. Seine Strukturen werden akribisch erforscht und etliche Forscher*innen verweisen gerne darauf, dass sie nirgends eine Seele, geschweige denn die Möglichkeit einer freien Willensentscheidung gefunden haben – für sie ist der Mensch vollständig determiniert.

Ich möchte in einer kleinen Artikelserie der Frage nach Freiheit, freiem Willen und Bewusstsein nachgehen, und dabei versuchen, ein klein wenig Freiheit vor der Kausalität, dem Determinismus und dem Reduktionismus zu retten. Um mich der Freiheit ein wenig annähern zu können, möchte ich zunächst einige Grenzen zu bestimmen.

Die biologische Grenze

Die grundsätzlichste Grenze ist meiner Ansicht nach die biologische Existenz an sich. Nur ein Lebewesen könnte eine theoretische Chance auf Freiheit besitzen. Bei genauerer Betrachtung, muss dieses Lebewesen auch in der Lage sein, so etwas wie „Freiheit“ denken zu können. Aber eines nach dem anderen. Die Grenzen, die die Biologie setzt, sind bis auf weiteres nicht zu durchbrechen – die Biologie ist also die Grundlage aller möglichen, menschlichen Freiheit.
Weil wir Lebewesen sind haben wir die Freiheit zu handeln, uns zu bewegen, uns zu entscheiden, was wir als nächstes tun, bzw. lassen wollen. Dabei sind Menschen durch die Art ihres Körperbaus begrenzt. Menschen können laufen, greifen, springen oder werfen und vieles mehr – allerdings sind sie nicht zum Fliegen ausgestattet und auch nicht für einen Daueraufenthalt im Wasser ausgerüstet. Bewegungsfreiheiten haben natürlich auch andere Tiere, entsprechend ihres Körperbaus. Sie handeln angeblich instinktiv nach einem genetischen Programm, das ihnen vorgibt, was sie als nächstes tun werden.
Tiere wissen angeblich nicht was sie tun – vom Menschen wird angenommen, dass er zumindest wissen kann, was er tut und damit kommt die Freiheit ins Spiel. Um nun überhaupt etwas tun zu können, müssen natürlich die biologischen Grundlagen intakt sein. Also Arme und Beine so weit funktionsfähig, ebenso wie die vitalen Organe, die Sinnesorgane und das Nervensystem – ein genügend gesunder Mensch also, der sich im Supermarkt für ein neues Produkt entscheidet, das ihm begehrenswert oder nützlich erscheint.
Hier kommt nun die nächste Hürde ins Spiel. Wie kam dieser Mensch zu dieser Entscheidung. Ist sie wirklich frei getroffen worden? Oder wurde er von Werbung beeinflusst? Hat er gerade einen schlechten Tag? Was hat im Vorfeld alles auf diesen Menschen eingewirkt, das ihn zu dieser Entscheidung gebracht hat?

Die Befunde

Tatsächlich ist der Einfluss von halb- oder unbewussten Eindrücken, Stimmungen, Vorurteilen und vielen weiteren Faktoren auf menschliche Entscheidungen nicht von der Hand zu weisen. Unsere Urteile und Meinungen wechseln mit der Temperatur und der Einrichtung des Raumes, in dem wir uns befinden. Ebenso, ob wir hungrig oder satt, schläfrig oder munter sind. Und ebenso tatsächlich machen sich die wenigsten Menschen bewusst, dass sie heute so und morgen so entscheiden würden. Jede Entscheidung fühlt sich frei und gewiss an und wer daran zweifelt ist entweder bösartig oder verrückt.
Diese Erkenntnisse über die Entscheidungsfindung sind durch psychologische Experimente gefunden worden, die dann mit neuroanatomischen und neurophysiologischen Daten abgeglichen wurden. Dabei ist bemerkenswert, dass nie alle Versuchsteilnehmer*innen gleichermaßen beeinflussbar waren. Als bedeutsam wird alleine die statistische Signifikanz gewertet und die dazu passende Zunahme des Stoffwechsels in bestimmten Gehirnarealen.

Ich denke, das bedeutet, dass wir einerseits ständig beeinflusst werden, wir aber andererseits durchaus die Möglichkeit besitzen, uns dieser Einflüsse auch bewusst zu werden und darauf eine, auf bewusster Überlegung basierte, Entscheidung treffen zu können.

Wie frei nun die „bewusste Überlegung“ ist, werde ich in einer späteren Betrachtung näher in den Blick nehmen.

Wahlen und Qualen

Die aktuelle Situation vor der Wahl treibt mich wohl um – kaum habe ich die Augen geschlossen, taucht dieses Thema auf.

Wählen muss ich täglich in meinem Selbstumgang – was koche ich zum Mittagessen? Um welches Projekt kümmere ich mich jetzt? Und vieles mehr. Ich bin kein besonders entscheidungsfreudiger Mensch und meine Wahlmöglichkeit, erscheint mir mitunter als Qual.

Mit meinen Lieben habe ich bereits eine Wahl getroffen – ich habe „Ja“ zu uns gesagt. Aber der gemeinsame Alltag bringt ebenfalls viele Wahlmöglichkeiten mit sich. Die gemeinsame Wahl der Wochenendmahlzeiten, die Ausflugs- oder Urlaubsziele, welcher Film, auf welche Party usf. Ich verdanke meiner Frau eine Menge Lektionen darin, meinen Standpunkt vertreten zu müssen.

Im sozialen Raum des Alltags muss ich z. B. wählen, wie ich mich, zu welchem Anlass kleide, welchem Anlass ich überhaupt Beachtung schenken mag, welchen Ansprüchen an mich, ich folgen mag und gegen welche ich mich wehren will. Ich bin mit meiner Freiheit konfrontiert und mit den sozialen Regeln, die dieser Freiheit Grenzen setzt.

Wenn ich den Begriff der „Wahl“ mit meinen Empfindungen erforsche, bemerke ich einen Druck auf der Brust. Meine Augen wollen nach unten sehen und die Atembewegung verengt sich. Ich bekomme kalte Füße.

Emotional ist das begleitet von einer unbestimmten Furcht und einer gewissen Verlegenheit.

Ich denke Wahl, bzw. Wahlmöglichkeit ist ein Ausdruck von Freiheit und damit von Verantwortung. Keine Wahl zu haben erscheint mir wenig erstrebenswert und wählen zu müssen, bringt die Furcht vor der falschen Entscheidung mit sich.

Ich bemerke, dass ich eine Menge Hoffnungen und Ängste rund um das Wählen hege. Hoffnung, dass ich selbst die richtige Wahl treffe, bzw. treffen werde; Angst, dass das nicht der Fall ist oder sein wird. Ebenso Hoffnungen und Ängste, dass ich selbst gewählt, bzw. nicht gewählt werde.

Meine Ziele bezüglich meiner Wahlen laufen dahin, dass ich möglichst mit Herz und Verstand wähle, mir und den Umständen angemessen, möglichst klug und mitmenschlich.

In der Abschlussstille fühle ich mich leichter – ich verspüre so etwas, wie einen Frieden damit, dass ich die Konsequenzen meiner Wahlen nur bedingt absehen kann – ich kann meine Freiheit wieder deutlicher spüren.

P.S. Ich werde zur Wahl des Deutschen Bundestags gehen und meine Wahl treffen. Ich denke, dass die Ausübung des Wahlrechts an sich, ein „Ja“ zum demokratischen System ist, eine Art zu bezeugen, dass mir Demokratie wichtig ist.

gerecht – gerächt

Ein überraschendes Begriffspaar, das heute blitzschnell aus der Stille aufpoppt.

Mir selbst gerecht werden, war und ist ein Thema, das mir gut bekannt ist. Was fange ich mit meinen Talenten an – wie gehe ich mit mir um, wenn ich eine Chance, eine Gelegenheit verpasst habe? Aber auch die Frage: Inwieweit werden meine Vorstellungen, die ich mir über mich mache, meinen tatsächlichen Möglichkeiten gerecht.

In den nahen Beziehungen steht die Frage danach, wie ich den Erwartungen der anderen an mich gerecht werden kann. Inzwischen hinterfrage ich durchaus auch Erwartungen an mich und weise die eine oder andere, mir nicht gerechtfertigt erscheinende, auch einmal zurück. Ich kenne aber auch den Fall, in dem meine Erwartungen als nicht gerechtfertigt zurückgewiesen wurden und erinnere mich daran, dass dies meine Rachefantasien beflügelt hat.

Ich würde von mir sagen, dass ich über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfüge und das Ausmaß an Ungerechtigkeit, v.a. im ferneren sozialen Raum, inspiriert ebenfalls gerne meine Rachefantasien.

Auf der Empfindungsebene nehme ich eine Zentrierung wahr, als gäbe es einen Kanal, der von meinen Füßen bis zu meinem Schädeldach und darüber hinaus reicht – eine Art perfekte Balance. Im Hintergrund nehme ich die Bereitschaft zu einem empörten Aufschrei wahr.

Emotional ist diese Zentrierung sehr ruhig, gelassen und friedvoll – der Hintergrund hat die emotionale Qualität eines Vulkans – potenziell brüllend und tobend eruptiv schläft er im Moment.

Ich denke, ich weiß, dass Rache nichts an Ungerechtigkeit ändert, ja dass sie  nur neue Ungerechtigkeit produziert. Ich weiß auch, dass perfekte Gerechtigkeit ein unerreichbares Ideal ist.

Meine Befürchtungen gehen dahin, dass ich selbst ungerecht handle, Leid zufüge, das ich nicht beabsichtigt habe. Auch die Befürchtung, dass der Vulkan einmal explodieren würde und dabei mehr Ungerechtigkeit entfalten würde, als die, die seinen Ausbruch veranlasst hat.

Meine Hoffnungen liegen auf der Entwicklung eines globalen Gerechtigkeitsrahmens – ein globaler, moralischer Horizont, der für alle Menschen gelten soll, eine Ordnung, die Ungerechtigkeit benennt, verhindert oder wiedergutmacht.

Meine Ziele gehen dahin, mein vulkanisches Temperament mit meinem Gerechtigkeitssinn zu balancieren und das möglichst tages- und ereignisaktuell.

In der Abschlussstille fühle ich mich ruhig, geklärt und versöhnt. Ich ahne, dass Gerechtigkeitssinn und leidenschaftliches Eintreten für Gerechtigkeit keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig sogar bestärken können.

Realming: Räume erleben – Räume erschaffen

In meiner Stille taucht „Realming“ auf, das mich jetzt seit annähernd sechs Jahren begleitet. Ich will einen Blick darauf wagen, ob und wie Realming mein Leben verändert hat.

In meinem Selbstumgang stelle ich vor allem eine befriedigende Klarheit fest. Ich bin mir selbst noch vertrauter geworden,  als ich es vorher schon war. Ich finde mich gut und erklärlich in den Prozessen der Abgrenzung, des Austauschs und meinen Regulationsmöglichkeiten.

Im Umgang mit meinen Lieben finde ich mich gelassener und toleranter als früher. Es fällt mir leichter, andere Ansichten nicht als Angriff zu empfinden; Leichter, Verständnis für mich einzufordern.

Im nahen sozialen Raum bin ich engagierter geworden, kümmere ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten um Belange, zu denen ich mich hingezogen fühle. Im ferneren sozialen Raum entwickle ich utopische, politische Theorien um wenigstens gedankliche Alternativen zum derzeitigen Desaster zur Verfügung zu haben.

Auf der Empfindungsebene nehme ich sofort eine Ausweitung wahr. Es ist, als ob sich meine inneren Räume klären und differenzieren und der Raum um meinen Körper herum größer wird. Die Stimmung, die sich dabei ausbreitet ist heiter und gelassen.

Ich denke nach wie vor, dass das Realming Modell über eine wunderbare Klarheit und Plausibilität verfügt. Erlebnisse und Erfahrungen sortieren sich auf zwanglose Weise zu einem Zusammenhang, der Komplexität überschaubar macht.

Ich hoffe sehr, dass ich Realming noch vielen Menschen näher bringen kann.

Meine Ängste bewegen sich um die sozialen Phänomene der Beschleunigung und Vereinfachung. Immer mehr Arbeit in gleiche Zeiteinheiten gepresst und plumpe Parolen, die eine komplexe Lebenswelt auf simple Formeln reduzieren, könnten den Zugang zu einem Modell von toleranter Mitmenschlichkeit erschweren.

Meine Ziel bleibt erhalten – Realming weiterhin anzubieten, auszuüben und zu lehren.

In der Abschlussstille versöhnen sich Lust und Frust an und von Realming. Mein „Ja“ zu Realming kann ich deutlich wahrnehmen.

Standpunkt – Verständnis

Der Morgen war voller Trubel und mittags fällt es mir schwerer, meine Stille zu finden. Es hat Zeit gebraucht bis die Begriffe aufgetaucht sind.

Ich kenne Standpunkte in meinem Selbsterleben und in meinem Selbstumgang. Ich nehme sozusagen einen Standpunkt, mir selbst gegenüber ein – eine geheimnisvolle Verdoppelung meines Seins. Dabei finde ich Standpunkte, die ich nicht immer verstehe, die sich aber körperlich sehr deutlich bemerkbar machen (lieber noch ein wenig liegenbleiben). Mein Verstand weiß so gut wie immer, was ich zu tun hätte (aufstehen jetzt!), aber mein empfundener Standpunkt widerspricht dem schon ab und zu. Der Umstand, dass ich einen Körper habe, versteht nicht immer, wer oder wie ich körperlich gerade bin.

Meine Standpunkte in den Beziehungen zu meinen Lieben weisen ähnliche Abweichungen auf. Nur, dass sich dabei auch ein doppeltes Standpunkt-Verständnis Problem ergeben kann. Mein körperlicher Standpunkt mag auf ein Unverständnis meiner Liebsten treffen (und v.v.), mein Verständnis ihrem Verständnis von, vielleicht der Frage nach Putzhäufigkeit. Es gibt immer wieder spannende Auseinandersetzungen um Standpunkte und Verständnisfragen.

Im Sozialen Raum staune ich über die zahlreichen Standpunkte, für die ich kein Verständnis finden kann. Ich kann zwar verstehen, dass sich über Standpunkte trefflich streiten lässt, aber mein Verständnis für solche Streitereien ist ein grundlegender Respekt für den jeweils anderen Standpunkt (auch wenn mein eigener Standpunkt gerade vor Wut kocht).

Auf der Empfindungsebene nehme ich bei beiden Begriffen eine Festigkeit wahr. Vor allem die Wirbelsäule wird deutlich spürbar (Standpunkt) und der Bereich von Nacken und Kopf (Verständnis). Die Stimmung ist eher ruhig und eine Spur von Neugier macht sich bemerkbar.

Ich denke, dass die beiden Begriffe im Spannungsfeld von Individualität und Sozialität angesiedelt sind. Für mich ein Spannungsfeld, das nicht auflösbar ist. Mein Verständnis ist ein sprachliches, durch und durch sozial geformtes Konstrukt, das sich hoffentlich eine gewisse Flexibilität bewahrt hat. Mein Standpunkt wurzelt in meiner individuellen biologischen Existenz, die mich über meine Bedürfnisse informieren kann, die nicht immer sozial kompatibel sind.

Ich hoffe sehr und strebe es auch aktiv an, dass mein Verständnisrahmen sich weiterhin ausdehnt. Verständnis für mich und für meine Mitmenschen. Meine Befürchtungen kreisen im Moment um die radikalen und vereinfachenden Standpunkte, die sich im politischen Feld lautstark breit machen.

In der Abschlussstille spüre ich ein wenig Druck auf meiner Brust, aber auch eine Art trotzige Kraft von meinem Becken her aufsteigend. Mein Verständnis bleibt Humanistisch, Universalistisch und versteht sich in diesem Fall auch als mein Standpunkt, von dem aus ich für die Werte des bekömmlichen Miteinanders eintreten werde.