Die sozio-kulturelle Stimmung wühlt wohl auch in den Tiefen meiner Stille.
Radikalität kenne ich im Selbstumgang sehr gut. In meiner Jugend mehr als heute, habe ich mich gerne polarisiert und versucht, mich auf die Seite des „radikal Guten“ zu stellen und das vermeintlich radikal Böse erbittert zu bekämpfen. Wenn ich mich dann selbst mit dieser „Schwarz-Weiß-Brille“ betrachte, komme ich allerdings selten gut weg, denn ich schaffe es bei weitem nicht immer, radikal gut zu mir selbst und/oder zu anderen zu sein.
In meiner Familie kenne ich so etwas wie fraglose Loyalität, die potenziell etwas Radikales in sich trägt – wer mein Lieben angreift, hat mit meinem Grimm zu rechnen.
Im weiteren gesellschaftlichen Umfeld bin ich ein radikaler Befürworter von reflexiver Verantwortung und differenzierter Betrachtung. Die hysterischen Parolen, die in der Republik und weit darüber hinaus in der Welt erschallen, sind mir ein Graus. Ich fühle mich von der Radikalität mancher Meinung so herausgefordert, dass ich meine Neigung spüre, selbst zu radikalen Formulierungen zu greifen.
Körperlich spüre ich „Radikales“ als eine Schwere auf dem Brustbein. Meine Augen- und Stirnpartie zieht sich zusammen. Diese Organisation ist wie ein Luftholen, ein Kraft sammeln für einen explosiven Ausbruch meines „heiligen Zorns“.
Ich denke, dass Radikalität Radikalität hervorruft. Da mag zunächst der Aufschrei angesichts eines unsäglichen Missstands laut werden. Im nächsten Moment gibt es jemanden, der/die vorgibt, die endgültige Lösung für den Missstand zu besitzen. „Tod allen Fanatikern!“ lautet dann die „Weisheit“ für ein wie auch immer besseres Leben. Wenn ein differenziertes Nachdenken nicht möglich ist würde ein Blick in die Geschichte lehren können, dass radikale Lösungsversuche immer zu unermesslichem Leid geführt haben.
Radikalisierung findet vielleicht dann am meisten statt, wenn sich Menschen an der Wurzel bedroht fühlen. Leider – so mein Eindruck – machen sich eher weniger radikalisierte Menschen Gedanken darüber, was denn ihre Wurzel überhaupt ausmacht – die Bio- Ökosphäre dieses Planeten z.B., ein verträgliches sozio-ökonomische Gleichgewicht z.B. oder der Umstand, dass wir als Menschen die Möglichkeit besitzen, nachzudenken, abzuwägen, zu unterscheiden, Nein sagen zu können, zu dem was Leiden zufügt.
Ich habe im Moment häufig die Befürchtung, dass die Radikalisierung überhandnimmt. Dass sie mich dazu zwingt, mich radikal selbst zu verteidigen. Ich hoffe, dass die zahlreichen bedachtsamen und differenzierten Menschen genügend Kraft und Solidarität bereitstellen, damit Probleme und Herausforderungen konstruktiv gemeistert werden können.
Ich möchte gerne etwas dazu beitragen, die Debatten zu versachlichen, Gedankenanstöße zu geben, die der Neigung zur Radikalität ihre Kraft nehmen.
In der Abschlussstille wird mir klar, dass ich radikal bleibe – ein radikaler Befürworter des Lebens, der Liebe, der Solidarität und der Weisheit.