Vorurteil – Verurteilt

Vorurteil – Verurteilt

Die aktuellen Ereignisse scheinen sich bis in die geheimnisvollen Tiefen meiner Stille ausgebreitet zu haben. In meiner Welt-mit-mir finde ich überraschenderweise auch Vorurteile mir selbst gegenüber. „Das kannst Du nicht! – So bist Du nicht! – Du bist zu faul! und einige andere. Sind das Erfahrungen, die ich verallgemeinert habe, mit denen ich versuche, mir das Leben leichter zu machen?

Auch in meinem nächsten Umkreis finde ich Vorurteile. Natürlich kenne ich meine liebsten Menschen, habe ich Erfahrungen mit ihnen gemacht, aber gilt auch die Generalisierung? Habe ich nicht schon oft erlebt, dass sie ganz anders handeln können, als ich es gedacht hätte?

Dass ich im sozialen Raum Vorurteile hege überrascht mich nicht. Überraschender finde ich, wie schnell sich diese Vorurteile auch wieder auflösen können! Durch eine reale Begegnung ist es mir möglich, den Menschen hinter dem Vorurteil zu sehen.

Körperlich ist am eindrücklichsten, wie sich meine Augen verengen und meine Lippen sich aufeinander pressen. Meine Zunge schiebt sich bis ganz an die Lippen, als wollte sie verhindern, dass irgendetwas in den Mund hinein kommt.

Emotional spüre ich ambivalentes Kreisen zwischen einer gewissen Wut, Furcht, Ekel und auch so etwas wie Trauer schwingt dabei mit.

Ich denke, dass Vorurteile etwas sehr menschliches sind. Sie werden biologisch und neurologisch begünstigt. In der frühen Lebenszeit erwerben wir den Rahmen dessen, was wir später mit „Normalität“ bezeichnen – nur was normal wirkt, gehört irgendwie dazu. Wer nicht so aussieht und sich anders verhält gehört nicht dazu und ist potenziell gefährlich. Vorurteile helfen uns, uns schnell entscheiden zu können und, uns möglichst optimal (im Sinne des Überlebens), orientieren zu können. Allerdings ist dieses menschliche Erbe durch die Komplexität der modernen Welt einigermaßen überfordert. Es braucht also so etwas wie Bewusstheit über diese Angewohnheit und so etwas, wie die Bereitschaft, Verantwortung für die Vorurteile zu übernehmen.

Meine Hoffnung geht dahin, dass ich wach und verantwortlich genug bleibe, um meinen Vorurteilen nicht auf den Leim zu gehen. Meine Befürchtung wäre entsprechend, dass meine Vorurteile mich zum voreiligen Handeln verführen. Eine andere Befürchtung ist, dass ich selbst zum Opfer von Vorurteilen anderer werde.

Ich würde gerne erreichen, dass meine Gedanken zum Thema auch von anderen Menschen aufgegriffen werden, dass sie so etwas wie ein Aha-Erlebnis auslösen würden, das den einen oder die andere, sich ihrer Vorurteile bewusst werden und erkennen können, dass sie nichts mit den Menschen zu tun haben, auf die sich die Urteile beziehen.

Dieser Blog ist vielleicht schon der Schritt dahin, dass so etwas geschehen kann.

Ich finde es wichtig, dass Menschen, die Vorurteile haben nicht verurteilt werden. Vorurteile zu haben ist menschlich. Vorurteile als solche zu erkennen und nicht nach ihnen zu handeln ist die zivilisatorische Herausforderung.

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