„Wie das Gehirn die Seele macht“

Gerhard Roth und Nicole Strüber: „Wie das Gehirn die Seele macht“

Mit diesem etwas provozierenden Titel fordern die Autor*innen zwei Parteien heraus. Die einen sind die Dualisten, für die ganz klar ist, dass es „rein geistige“ Prinzipien sind, die die Seele bestimmen. Die anderen sind die reinen Materialisten, für die die Seele nur das Feuern von Neuronen ist. Das Buch ist allerdings alles andere als platter Reduktionismus – im Gegenteil sucht es den Weg, empirische Befunde für ein Verständnis des seelischen Erlebens zu erkunden.

Das Buch entstand im Rahmen eines interdisziplinären Projektes, bei dem Vertreter*innen der Neurobiologie, Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Philosophie die strittigen Fragen zur gesunden und zur kranken Seele, zum Verhältnis von Gehirn und psychischem Erleben erforschten.

In gebotener Breite stellen die Autor*innen die Geschichte der Fragen um Seele und Bewusstsein dar. Weiter werden die zeitgenössischen empirischen Befunde rund um das Nervensystem erörtert – mir war das an einigen Stellen zu ausführlich.

Anhand der Befunde entwickelt Roth/Strüber dann ein „Vier-Ebenen-Modell“ des Bewusstseins, das insbesondere die Funktionen der Neurotransmitter mit einbezieht. Sie beschreiben ausführlich die Rolle dieser Neuromodulatoren in den „psychoneuronalen Grundsystemen“ – dem Stressverarbeitungssystem, dem internen Beruhigungssystem, dem internen Bewertungs- und Belohnungssystem, dem Impulshemmungssystem, dem Bindungssystem und dem System des Realitätssinns und der Risikobewertung.

Ein weiterer großer Themenbereich ist dann die Bedeutung von frühkindlicher Entwicklung für die Funktion und Zusammenarbeit dieser Systeme. Gerade dann, wenn diese frühe Lebenszeit eher unbekömmlich war, lässt sich heute gut darstellen, wie aus den unglücklichen Kindern von damals, die psychisch kranken Erwachsenen von heute werden. Es gilt die einfache Regel – je früher, desto gravierender.

Roth/Strüber prüfen dann die Verfahren der Psychoanalytischen und Verhaltenstherapeutischen Richtung der Psychotherapie, inwieweit sie den aktuellen neurologischen Befunden entsprechen. Als Ergebnis halten die Autor*innen fest, dass beide Schulen noch nachbessern können. Unerlässlich für jede Art von Psychotherapie ist die „therapeutische Allianz“, mit deren Hilfe dann spezifische Interventionen überhaupt erst wirksam werden können.

Der letzte Teil des Buchs widmet sich noch einmal der Frage nach Materialismus und Spiritualismus. In einer differenzierten Diskussion entwickeln sie ihr Naturalistisches Modell, aus dem deutlich wird, dass durch die komplexe Vernetzung und die Eigenkommunikation des Gehirns durchaus ein bewusstes Erleben resultieren kann.

Ich habe das Buch sehr zufrieden weggelegt und kann es nur allen Kolleg*innen und interessierten Laien empfehlen.

Vorurteil – Verurteilt

Vorurteil – Verurteilt

Die aktuellen Ereignisse scheinen sich bis in die geheimnisvollen Tiefen meiner Stille ausgebreitet zu haben. In meiner Welt-mit-mir finde ich überraschenderweise auch Vorurteile mir selbst gegenüber. „Das kannst Du nicht! – So bist Du nicht! – Du bist zu faul! und einige andere. Sind das Erfahrungen, die ich verallgemeinert habe, mit denen ich versuche, mir das Leben leichter zu machen?

Auch in meinem nächsten Umkreis finde ich Vorurteile. Natürlich kenne ich meine liebsten Menschen, habe ich Erfahrungen mit ihnen gemacht, aber gilt auch die Generalisierung? Habe ich nicht schon oft erlebt, dass sie ganz anders handeln können, als ich es gedacht hätte?

Dass ich im sozialen Raum Vorurteile hege überrascht mich nicht. Überraschender finde ich, wie schnell sich diese Vorurteile auch wieder auflösen können! Durch eine reale Begegnung ist es mir möglich, den Menschen hinter dem Vorurteil zu sehen.

Körperlich ist am eindrücklichsten, wie sich meine Augen verengen und meine Lippen sich aufeinander pressen. Meine Zunge schiebt sich bis ganz an die Lippen, als wollte sie verhindern, dass irgendetwas in den Mund hinein kommt.

Emotional spüre ich ambivalentes Kreisen zwischen einer gewissen Wut, Furcht, Ekel und auch so etwas wie Trauer schwingt dabei mit.

Ich denke, dass Vorurteile etwas sehr menschliches sind. Sie werden biologisch und neurologisch begünstigt. In der frühen Lebenszeit erwerben wir den Rahmen dessen, was wir später mit „Normalität“ bezeichnen – nur was normal wirkt, gehört irgendwie dazu. Wer nicht so aussieht und sich anders verhält gehört nicht dazu und ist potenziell gefährlich. Vorurteile helfen uns, uns schnell entscheiden zu können und, uns möglichst optimal (im Sinne des Überlebens), orientieren zu können. Allerdings ist dieses menschliche Erbe durch die Komplexität der modernen Welt einigermaßen überfordert. Es braucht also so etwas wie Bewusstheit über diese Angewohnheit und so etwas, wie die Bereitschaft, Verantwortung für die Vorurteile zu übernehmen.

Meine Hoffnung geht dahin, dass ich wach und verantwortlich genug bleibe, um meinen Vorurteilen nicht auf den Leim zu gehen. Meine Befürchtung wäre entsprechend, dass meine Vorurteile mich zum voreiligen Handeln verführen. Eine andere Befürchtung ist, dass ich selbst zum Opfer von Vorurteilen anderer werde.

Ich würde gerne erreichen, dass meine Gedanken zum Thema auch von anderen Menschen aufgegriffen werden, dass sie so etwas wie ein Aha-Erlebnis auslösen würden, das den einen oder die andere, sich ihrer Vorurteile bewusst werden und erkennen können, dass sie nichts mit den Menschen zu tun haben, auf die sich die Urteile beziehen.

Dieser Blog ist vielleicht schon der Schritt dahin, dass so etwas geschehen kann.

Ich finde es wichtig, dass Menschen, die Vorurteile haben nicht verurteilt werden. Vorurteile zu haben ist menschlich. Vorurteile als solche zu erkennen und nicht nach ihnen zu handeln ist die zivilisatorische Herausforderung.

„Heimat Mensch“

„Heimat Mensch“ von Christoph Antweiler
Das Christkind hat mir ein Buch beschert, das ich schon seit längerer Zeit auf meiner „noch-zu-lesen Liste“ geführt habe. Christoph Antweiler ist Professor für Ethnologie. In diesem Fachbereich gibt es zwei Lager – die Universalisten und die Relativisten. Die ersteren, zu denen auch Herr Antweiler gehört, denken, dass es allgemein menschliche Merkmale in allen Kulturen gibt. Die letzteren glauben das nicht und behaupten, dass jede Kultur nur für sich und aus sich heraus verständlich ist. Mein Ansatz für „Realming“ glaubt ebenfalls an allgemein menschliche Eigenschaften und Verrichtungen und ich bekam mit dem Buch eine Menge guter und z.T. neuer Argumente für meine Position.
Im Einführungskapitel erfahre ich, dass inzwischen 888 große und gemeinsame Themen bekannt sind, die in allen erforschten Kulturen eine Rolle spielen. Das bedeutet nicht, dass alle Kulturen diese Themen auf dieselbe Art lösen, sondern nur, dass sie mit diesen Themen umgehen. Im weiteren Verlauf erläutert uns der Autor einige davon.
Es geht da zunächst um den Umgang mit Macht, Hierarchien und deren räumlicher Darstellung, bzw. Inszenierung – Mächtige sitzen erhöht, das ist schon bei den Primaten so und findet sich in allen menschlichen Kulturen. Gemeinsam ist den Menschen auch, dass sie sich für die Sexualität aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Weiter geht es mit der Gruppenbildung und der fatalen Neigung, die eigene Gruppe durch die Differenz zu einer anderen Gruppe zu bestimmen – Vorurteile sind menschlich! Der Umgang mit ihnen eine Frage der Zivilisation.
Das ganze Buch liest sich leicht und flüssig. Es beschreibt Phänomene, wie den Umgang mit der Zeit, mit Sprache überhaupt und betrachtet sogar romantische Liebe und Kunst in verschiedenen Kulturen. Es geht dem Autor dabei nicht darum, Kulturen auf ein Niveau zu bringen sondern darum, die Ähnlichkeit in der Vielfalt zu sehen. Er schreibt: „Wir sind eine Menschheit, und wir leben in einer Welt.“ – oder: „Jede Kultur ist wie alle, wie einige, wie keine einzige andere Kultur.“

Neu – Beginn

Die Weihnachtspause ist vorüber, das neue Jahr hat begonnen. Aus meiner Stille tauchen die Begriffe „Neu“ und „Beginn“ auf.
Ist ein Jahreswechsel ein Neu-Beginn? In meinem Leben mit mir kenne ich die Übergänge, das Vergehen von Altem, das Auftauchen von neuem, das aber immer irgendwie auch mit dem Alten verbunden ist. Vielleicht kann ich aber auch das Neue nicht erkennen, weil ich es nur mit meinen „alten“ Augen sehen kann? Wirklich qualitativ neu sind Diagnosen einer Krankheit, die es vorher noch nicht gab, vielleicht Unfälle, unvorhergesehen Begegnungen, durchaus auch Glücksfälle. Ich merke, dass es mir lieber ist, wenn nicht allzu viel Neues in meinem Leben auftaucht.
Ebenso in meinen nahen Beziehungen. Es gibt die unvermeidlichen Übergänge und die liebgewordenen Routinen – ob Neu-Beginn hier wirklich etwas Besseres bringen kann? Auch hier kostet es mich Mut, immer wieder zu versuchen, neu auf meine Beziehungen zu schauen, um nicht in den Routinen zu versinken.
Im sozialen Leben bin ich mittelbar von den Kölner Silvester Vorgängen berührt. Ich vermute, dass hier etwas Neues beginnt, bzw. dass etwas, was es schon immer gab, als neue Qualität verkauft wird. Gibt es im sozialen Raum qualitativ Neues? Flüchtlinge in großer Zahl? Sexualisierte Gewalt von Männerhorden? Gesetze und Verordnungen, die die Bevölkerung schützen sollen? Nichts davon kommt mir wirklich neu vor – neu wäre allenfalls, dass mir die mediale Verarbeitung des Themas noch plakativer und undifferenzierter als sonst vorkommt.
Meine Körperempfindungen zum Thema sind sehr unspezifisch. Ich spüre so etwas wie eine subtile Zurückhaltung, eine Empfindung von Schwäche vor allem in den Hüft- und Schultergelenken.
Emotional fühle ich mich auf der Kippe zwischen fröhliche „Au Ja“ und einem gewissen Misstrauen, in dem auch Ängstlichkeit mitschwingt.
Meine Gedanken zum Neu-Beginn sind skeptisch eingefärbt. Ab wann kann etwas wirklich „neu“ genannt werden? Dass es Neues gibt – z.B. technische Geräte oder Entdeckungen aller Art – möchte ich nicht bezweifeln. Ich suche nach den Unterschieden des qualitativ Neuen, das auch eine Art Beginn bedeutet und dem eher quantitativ Neuen, das einfach nur mehr vom Altbekannten produziert. Ich merke, dass es nicht so einfach ist, hier Unterscheidungen zu treffen. Ich misstraue meinen sozial-dressierten Denkweisen, was solche Zuordnungen angeht. Ich sehe auch die neurologisch bedingte „Angewohnheit“, Neues zunächst einmal mit Altem zu verbinden, die Notwendigkeit, dass ich auch lernen muss, neu zu sehen um das Neue wirklich erkennen zu können – wirklich schwierige Gedanken.
Mein größte Hoffnung ist, dass Menschen bereit werden, sich selbst und ihren Umgang miteinander in einem neuen Licht zu sehen – dass sie beginnen, die Absurdität zu erkennen, was es bedeutet, sich auf einem einzigen Planeten um die Ressourcen zu streiten, anstatt dessen Reichtum, so gerecht wie möglich, allen zukommen zu lassen. Meine Ängste gehen dahin, dass diese alt-neue Einsicht nicht genügend Zeit bekommen wird, um sich zu entwickeln. Für den Rahmen meiner persönlichen Möglichkeiten hoffe ich, dass mein Lebensstil genügend verantwortungsbewusst ist und hoffentlich nicht dazu beiträgt, dass alles, immer noch schlimmer wird.
Erreichen möchte ich am liebsten, dass ich mich traue, mit meinen Ideen nach außen zu treten, Mitstreiter*innen zu finden, die an einer neuen Idee mitdenken möchten. Der heutige Beitrag ist vielleicht ein schon ein Schritt dahin.
Wenn ich diesen neuen Weg weiterginge, würde sich mein Leben wohl in allen Bereichen ziemlich verändern. Falls der Funke beginnen würde aufzuglühen, würde er Zeit und Atem von mir brauchen, würde ich Zeit und Atem aufbringen wollen, um die Idee am Leben zu erhalten und weiter zu verbreiten.
Aus meiner Abschlussstille höre ich laut und deutlich ein „Ja“.

Vergebung – vergeblich

Vergeben und Vergebung tauchen aus der Stille auf. Mir selbst vergeben ist keine leichte Übung. Ich mache Fehler, manchmal sind mir schlimme Fehler unterlaufen – weniger aus Bosheit, als aus Unachtsamkeit – trotzdem, ich konnte und kann mir nicht so leicht vergeben.

Aus meiner Herkunftsfamilie ist Vergebung für mich gewissermaßen ein Un-Thema. Meine Eltern haben mir vieles vergeben und ich ihnen mittlerweile auch. Ich merke trotzdem, wie viel Anstrengung es mich kostet, zu vergeben, selbst bei Kleinigkeiten.

Vergebung im Sozialen fällt mir mittlerweile leichter. Ich denke nicht mehr so stark in Gut-Böse Kategorien. Die Ungerechtigkeiten und Schurkereien, deren täglicher Zeuge ich bin, triggern zunächst meine Rachsucht, meinen Zorn und meine Empörung. Wie kann ich den Schurken dieser Welt vergeben? Muss ich das überhaupt – oder ist mein „heiliger Zorn“ vielleicht sogar hilfreicher? Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass mein Brodeln im Zorn mir nicht gut tut.

Körperlich fühle ich, wie sich mein Brustraum, mein Herz zusammenzieht. Damit verbunden ist Schmerz und tiefe Trauer – im Hintergrund auch Wut.

Ich denke, dass Vergebung eine positive Kraft und Fähigkeit ist. Vergebung kann verkrustete Konflikte schmelzen, den kalten Hass in warme Trauer verwandeln. Ich denke, es braucht viel Kraft und Selbstvertrauen, um diese Verwandlung anzugehen. Das Verharren in Schmerz und Verletzung wird immer nur neuen Schmerz und neue Verletzung hervorbringen, aber Vergebung lässt sich nicht herbei denken oder gar befehlen. Die Opfer der Verletzung brauchen ihre Zeit, um zu ihren Möglichkeiten des Vergebens finden zu können.

Ich hoffe, dass meine Bemühungen, vergeben zu könne, Erfolg haben werden. Dass ich auch mit kleinen Schritten dahin komme, meine Verletzungen nach und nach zu verwandeln.

Ich möchte gerne erreichen, dass ich dieser Einsicht täglich folgen kann. Und mein nahes Umfeld gibt mir dazu auch genügend Gelegenheit.

Vergeblich ist der Wunschtraum der Entschädigung, des Ungeschehen-Machens. Vergebung folgt dem Fluss des Lebens.