„Befreite Lebensenergie“

Das Grundlagenbuch meines Lehrers David Boadella ist mir sehr wichtig, weshalb ich es auch hier vorstellen mag. Das Buch handelt von „Biosynthese“ der Schule der Körperpsychotherapie, die David begründet hat. Die meisten Schulen der Körperpsychotherapie gehen auf die Arbeit des umstrittenen Analytikers Wilhelm Reich zurück, der die Quelle der, von der Psychoanalyse formulierten Libido Energie, erforscht hat.

David schildert den Weg seiner Theoriebildung durch mehrere Jahre Arbeit und Forschung. Schritt für Schritt führt er die Leser*innen durch das Menschenbild der Biosynthese. Lange bevor prä- und perinatale Psychologie vom Mainstream der Schulwissenschaft anerkannt wurde, entwarf David ein Modell der Persönlichkeitseinflüsse, die Menschen bereits im Mutterleib und während der Geburt erfahren können.

Der Zugang zum körperseelischen Verständnis über die embryologischen Wachstums- und Differenzierungsprozesse hat sich als besonders anschaulich und hilfreich erwiesen. In den folgenden Kapiteln behandelt David verschiedene Bereiche der existenziellen Erfahrungen des Menschen mit sich und seinen Bezugspersonen. Es geht um körperlich Präsenz und deren Wandlungsformen in verschiedenen Kontexten und um die Verwendung der Sinnesorgane in Beziehungen. Die zentrale Rolle der Atmung für die Selbstwahrnehmung und Selbstaktualisierung und schließlich auch um die Aspekte der therapeutischen Kommunikation.

Die Schlusskapitel betrachten Erleben in psychischen Ausnahmezuständen und die Grenzen des Lebens überhaupt. Undogmatisch vermittelt David einige Betrachtungen zum Verständnis von Körper, Seele und Geist und schließlich auch zu den Grenzerfahrungen von Geburt und Tod.

Das Buch erschien 1987 unter dem Titel „Lifestreams“ und ist in deutscher Sprache neu aufgelegt. Für alle, die sich einen Eindruck von dieser sehr umfassenden Methode machen möchten, kann ich es nur empfehlen. Etliche Perspektiven der Biosynthese verwende ich auch in meinem Konzept von Realming.

Radikal – Wurzellos

Die sozio-kulturelle Stimmung wühlt wohl auch in den Tiefen meiner Stille.

Radikalität kenne ich im Selbstumgang sehr gut. In meiner Jugend mehr als heute, habe ich mich gerne polarisiert und versucht, mich auf die Seite des „radikal Guten“ zu stellen und das vermeintlich radikal Böse erbittert zu bekämpfen. Wenn ich mich dann selbst mit dieser „Schwarz-Weiß-Brille“ betrachte, komme ich allerdings selten gut weg, denn ich schaffe es bei weitem nicht immer, radikal gut zu mir selbst und/oder zu anderen zu sein.

In meiner Familie kenne ich so etwas wie fraglose Loyalität, die potenziell etwas Radikales in sich trägt – wer mein Lieben angreift, hat mit meinem Grimm zu rechnen.

Im weiteren gesellschaftlichen Umfeld bin ich ein radikaler Befürworter von reflexiver Verantwortung und differenzierter Betrachtung. Die hysterischen Parolen, die in der Republik und weit darüber hinaus in der Welt erschallen, sind mir ein Graus. Ich fühle mich von der Radikalität mancher Meinung so herausgefordert, dass ich meine Neigung spüre, selbst zu radikalen Formulierungen zu greifen.

Körperlich spüre ich „Radikales“ als eine Schwere auf dem Brustbein. Meine Augen- und Stirnpartie zieht sich zusammen. Diese Organisation ist wie ein Luftholen, ein Kraft sammeln für einen explosiven Ausbruch meines „heiligen Zorns“.

Ich denke, dass Radikalität Radikalität hervorruft. Da mag zunächst der Aufschrei angesichts eines unsäglichen Missstands laut werden. Im nächsten Moment gibt es jemanden, der/die vorgibt, die endgültige Lösung für den Missstand zu besitzen. „Tod allen Fanatikern!“ lautet dann die „Weisheit“ für ein wie auch immer besseres Leben. Wenn ein differenziertes Nachdenken nicht möglich ist würde ein Blick in die Geschichte lehren können, dass radikale Lösungsversuche immer zu unermesslichem Leid geführt haben.

Radikalisierung findet vielleicht dann am meisten statt, wenn sich Menschen an der Wurzel bedroht fühlen. Leider – so mein Eindruck – machen sich eher weniger radikalisierte Menschen Gedanken darüber, was denn ihre Wurzel überhaupt ausmacht – die Bio- Ökosphäre dieses Planeten z.B., ein verträgliches sozio-ökonomische Gleichgewicht z.B. oder der Umstand, dass wir als Menschen die Möglichkeit besitzen, nachzudenken, abzuwägen, zu unterscheiden, Nein sagen zu können, zu dem was Leiden zufügt.

Ich habe im Moment häufig die Befürchtung, dass die Radikalisierung überhandnimmt. Dass sie mich dazu zwingt, mich radikal selbst zu verteidigen. Ich hoffe, dass die zahlreichen bedachtsamen und differenzierten Menschen genügend Kraft und Solidarität bereitstellen, damit Probleme und Herausforderungen konstruktiv gemeistert werden können.

Ich möchte gerne etwas dazu beitragen, die Debatten zu versachlichen, Gedankenanstöße zu geben, die der Neigung zur Radikalität ihre Kraft nehmen.

In der Abschlussstille wird mir klar, dass ich radikal bleibe – ein radikaler Befürworter des Lebens, der Liebe, der Solidarität und der Weisheit.

Abgegrenzt – Ausgegrenzt

Das Grenzthema ist im Moment medial allgegenwärtig – Sei es die Flüchtlingsfrage, sei es der Respekt vor sexueller Integrität oder die Frage nach den Grenzen des Wachstums.

In meinem Umgang mit mir selbst begegnen mir Grenzen meiner Leistungsfähigkeit, die Begrenztheit meiner Zeit und immer wieder Fragen nach meiner Selbstdisziplin und wie streng diese auszulegen ist.

In meinem nahen Umfeld spielen Erwartungsgrenzen eine Rolle. Wie viel kann und darf ich von meinen Lieben erwarten, wie viel, diese von mir? Wo enttäusche ich Erwartungen – setze ein Grenze – und wo begegne ich einer Grenze? Viele Grenzverläufe haben sich quasi selbst organisiert und sind kaum konflikthaft. Erst wenn Änderungswünsche auftreten, kommen Grenzverhandlungen in Gang.

Sozial begegnen mir zahlreiche Grenzen. Meine „Bildungsausstattung“ grenzt mich von einigen Berufsfeldern aus. Mein ökonomische Ausstattung von einigen Segnungen der Kultur. Andererseits habe ich mich schon recht früh von einigen gesellschaftlichen Gepflogenheiten abgegrenzt – ich wollte kein „Spießer“ sein und somit z.B. keine Krawatten tragen.

Körperlich spüre ich beim Thema eine große Kraft vor allem auf der Körperrückseite, in den Augen und an der Stirn. Die Hüftgelenke fühlen sich etwas wackelig an und die Fußgelenke etwas zerbrechlich.

Emotional fühle ich mich zwischen Ärger und Trotz gestimmt. Mehr in der Tiefe kann ich dann auch Furcht wahrnehmen.

Ich habe mir schon viele Gedanken zum Grenzthema gemacht. Grenzen sind meiner Ansicht nach unvermeidlich, denn erst Grenzen ermöglichen Unterschiede. Grenzen definieren Räume und Grenzen müssen für einen Austausch durchlässig sein. Das Realming Modell geht explizit mit dem Grenzthema und seinen zahlreichen Variationen um. Die persönlichen und sozialen Räume, deren Grenzmarkierungen und den Austauschprozessen die über die Grenzen hinweg und durch sie hindurch stattfinden.

Ich hoffe immerzu, dass mir diese Einsicht hilft, konstruktiv mit Grenzen umzugehen. Dass ich in der Lage bin, z.B zu erkennen, wann ich ausgrenze weil ich eine diffuse Furcht empfinde. Ich habe inzwischen ein gewisses Vertrauen darin, meine Grenzen verteidigen zu können. Andererseits hoffe ich aber auch, meine Grenzen, meinen Raum und meine Präsenz noch ausweiten und erhöhen zu können. Meine Befürchtungen liegen in Richtung der Überwältigung, Demütigung und Ausgrenzung.

Meine Grenzziele leiten sich daraus ab. Ich denke, dass ich weniger Raum einnehme, als ich es könnte, weil ich der Furcht zu große Macht einräume.

Dieser Blog ist ein Schritt für mich, meinen Raum in der Öffentlichkeit zu markieren und mich darin sichtbar zu machen (die Befürchtungen, die dabei mit auftreten, muss ich tolerieren).

Sollte der Schritt erfolgreich sein, wird er große Wirkungen auf meine Zeiträume in allen Lebensbereichen haben.

Ich fühle mich jetzt gestärkt und ermutigt, diesen Weg weiter zu gehen.

„Wie das Gehirn die Seele macht“

Gerhard Roth und Nicole Strüber: „Wie das Gehirn die Seele macht“

Mit diesem etwas provozierenden Titel fordern die Autor*innen zwei Parteien heraus. Die einen sind die Dualisten, für die ganz klar ist, dass es „rein geistige“ Prinzipien sind, die die Seele bestimmen. Die anderen sind die reinen Materialisten, für die die Seele nur das Feuern von Neuronen ist. Das Buch ist allerdings alles andere als platter Reduktionismus – im Gegenteil sucht es den Weg, empirische Befunde für ein Verständnis des seelischen Erlebens zu erkunden.

Das Buch entstand im Rahmen eines interdisziplinären Projektes, bei dem Vertreter*innen der Neurobiologie, Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Philosophie die strittigen Fragen zur gesunden und zur kranken Seele, zum Verhältnis von Gehirn und psychischem Erleben erforschten.

In gebotener Breite stellen die Autor*innen die Geschichte der Fragen um Seele und Bewusstsein dar. Weiter werden die zeitgenössischen empirischen Befunde rund um das Nervensystem erörtert – mir war das an einigen Stellen zu ausführlich.

Anhand der Befunde entwickelt Roth/Strüber dann ein „Vier-Ebenen-Modell“ des Bewusstseins, das insbesondere die Funktionen der Neurotransmitter mit einbezieht. Sie beschreiben ausführlich die Rolle dieser Neuromodulatoren in den „psychoneuronalen Grundsystemen“ – dem Stressverarbeitungssystem, dem internen Beruhigungssystem, dem internen Bewertungs- und Belohnungssystem, dem Impulshemmungssystem, dem Bindungssystem und dem System des Realitätssinns und der Risikobewertung.

Ein weiterer großer Themenbereich ist dann die Bedeutung von frühkindlicher Entwicklung für die Funktion und Zusammenarbeit dieser Systeme. Gerade dann, wenn diese frühe Lebenszeit eher unbekömmlich war, lässt sich heute gut darstellen, wie aus den unglücklichen Kindern von damals, die psychisch kranken Erwachsenen von heute werden. Es gilt die einfache Regel – je früher, desto gravierender.

Roth/Strüber prüfen dann die Verfahren der Psychoanalytischen und Verhaltenstherapeutischen Richtung der Psychotherapie, inwieweit sie den aktuellen neurologischen Befunden entsprechen. Als Ergebnis halten die Autor*innen fest, dass beide Schulen noch nachbessern können. Unerlässlich für jede Art von Psychotherapie ist die „therapeutische Allianz“, mit deren Hilfe dann spezifische Interventionen überhaupt erst wirksam werden können.

Der letzte Teil des Buchs widmet sich noch einmal der Frage nach Materialismus und Spiritualismus. In einer differenzierten Diskussion entwickeln sie ihr Naturalistisches Modell, aus dem deutlich wird, dass durch die komplexe Vernetzung und die Eigenkommunikation des Gehirns durchaus ein bewusstes Erleben resultieren kann.

Ich habe das Buch sehr zufrieden weggelegt und kann es nur allen Kolleg*innen und interessierten Laien empfehlen.

Vorurteil – Verurteilt

Vorurteil – Verurteilt

Die aktuellen Ereignisse scheinen sich bis in die geheimnisvollen Tiefen meiner Stille ausgebreitet zu haben. In meiner Welt-mit-mir finde ich überraschenderweise auch Vorurteile mir selbst gegenüber. „Das kannst Du nicht! – So bist Du nicht! – Du bist zu faul! und einige andere. Sind das Erfahrungen, die ich verallgemeinert habe, mit denen ich versuche, mir das Leben leichter zu machen?

Auch in meinem nächsten Umkreis finde ich Vorurteile. Natürlich kenne ich meine liebsten Menschen, habe ich Erfahrungen mit ihnen gemacht, aber gilt auch die Generalisierung? Habe ich nicht schon oft erlebt, dass sie ganz anders handeln können, als ich es gedacht hätte?

Dass ich im sozialen Raum Vorurteile hege überrascht mich nicht. Überraschender finde ich, wie schnell sich diese Vorurteile auch wieder auflösen können! Durch eine reale Begegnung ist es mir möglich, den Menschen hinter dem Vorurteil zu sehen.

Körperlich ist am eindrücklichsten, wie sich meine Augen verengen und meine Lippen sich aufeinander pressen. Meine Zunge schiebt sich bis ganz an die Lippen, als wollte sie verhindern, dass irgendetwas in den Mund hinein kommt.

Emotional spüre ich ambivalentes Kreisen zwischen einer gewissen Wut, Furcht, Ekel und auch so etwas wie Trauer schwingt dabei mit.

Ich denke, dass Vorurteile etwas sehr menschliches sind. Sie werden biologisch und neurologisch begünstigt. In der frühen Lebenszeit erwerben wir den Rahmen dessen, was wir später mit „Normalität“ bezeichnen – nur was normal wirkt, gehört irgendwie dazu. Wer nicht so aussieht und sich anders verhält gehört nicht dazu und ist potenziell gefährlich. Vorurteile helfen uns, uns schnell entscheiden zu können und, uns möglichst optimal (im Sinne des Überlebens), orientieren zu können. Allerdings ist dieses menschliche Erbe durch die Komplexität der modernen Welt einigermaßen überfordert. Es braucht also so etwas wie Bewusstheit über diese Angewohnheit und so etwas, wie die Bereitschaft, Verantwortung für die Vorurteile zu übernehmen.

Meine Hoffnung geht dahin, dass ich wach und verantwortlich genug bleibe, um meinen Vorurteilen nicht auf den Leim zu gehen. Meine Befürchtung wäre entsprechend, dass meine Vorurteile mich zum voreiligen Handeln verführen. Eine andere Befürchtung ist, dass ich selbst zum Opfer von Vorurteilen anderer werde.

Ich würde gerne erreichen, dass meine Gedanken zum Thema auch von anderen Menschen aufgegriffen werden, dass sie so etwas wie ein Aha-Erlebnis auslösen würden, das den einen oder die andere, sich ihrer Vorurteile bewusst werden und erkennen können, dass sie nichts mit den Menschen zu tun haben, auf die sich die Urteile beziehen.

Dieser Blog ist vielleicht schon der Schritt dahin, dass so etwas geschehen kann.

Ich finde es wichtig, dass Menschen, die Vorurteile haben nicht verurteilt werden. Vorurteile zu haben ist menschlich. Vorurteile als solche zu erkennen und nicht nach ihnen zu handeln ist die zivilisatorische Herausforderung.