Meine Stille schenkt mir heute einen anspruchsvollen Begriff. Die Wahrheit in meinem Selbstraum ist zunächst einmal meine Wahrheit. Meine (gerade) gültige Sichtweise meiner Wirklichkeit wie ich sie wahrnehme. So wie ich mich kenne würde ich sagen, dass meine Wahrheit von mir mitunter ein wenig schön gefärbt wird – die Wahrheit in Wahrheit also eine aufgehübschte Version meiner Wirklichkeit darstellt.
Solche Manöver scheitern grandios mit meiner Liebsten. Unsere Wahrheit entsteht in unseren Gesprächen über unsere Wirklichkeit, bzw. über unsere jeweiligen persönlichen Wahrheiten. Das fühlt sich mitunter unbequem an, wenn meine aufgehübschten Positionen an ihrer Wahrnehmung scheitern. Letztlich gewinne ich (und wir) aber dabei, wenn wir wieder ein Stück gemeinsame Wahrheit hergestellt haben.
Im sozialen Raum nehme ich im Moment einen Wettkampf um die Wahrheit wahr. Alle möglichen Gruppierungen und Parteien möchten etwas über die WAHRHEIT erzählen, in der festen Überzeugung, dass sie die Wahrheit gepachtet hätten und dass die anderen Wahrheiten natürlich Unsinn sind. Ich fühle mich öfters mehr als leicht genervt darüber.
Auf der Empfindungsebene sammelt sich meine Aufmerksamkeit im Becken und den Hüftgelenken. Meine Atmung wird flacher, meine Augenbewegungen nehmen zu.
Emotional ist das von einer unbestimmten Ängstlichkeit begleitet (auf einer Metaebene bin ich überrascht von diesen Wahrnehmungen).
Ich denke, dass Wahrheit ein sehr vielseitig verwendbarer Begriff ist. Von der axiomatisch, formalen Wahrheit (x = x), über die Aussagenlogik: „Eine Aussage wie: „Es regnet.“ Ist dann wahr, wenn es draußen regnet. Bis zur Wahrheit entsprechend verschiedener Wirklichkeitsräume – meine Gedanken sind wahr, aber von einer anderen Art von Wahrheit, als wenn ich diese Gedanken jetzt hier niederschreibe. Wenn meine Gedanken dann von mehreren Menschen gelesen und diskutiert werden ergibt sich eine neue Art von Wahrheit. Ein und dieselbe Wirklichkeit – z.B. eine Million Flüchtlinge in Deutschland – ergibt eine Fülle von möglichen Wahrheiten über diese Tatsache.
Ich hoffe sehr, dass meine Wahrheiten nicht zu sehr von den Tatsachen abweichen, bzw. die Aspekte der Tatsachen berücksichtigen die auch tatsächlich relevant für mich sind. Ich erhoffe mir auch den Mut, für meine Wahrheiten einzustehen, gerade im sozialen Raum, in dem so viel Schindluder mit diesem Begriff betrieben wird. Meine Befürchtung ist, dass sich zu viele Menschen von vermeintlich „einfachen Wahrheiten“ einfangen lassen und diese einfachen Wahrheiten dann zum Anlass für einfach nur dumme Handlungen nehmen.
Ich erstrebe eine ständige kritische Distanz zu allen Wahrheiten, die mir begegnen – kritisch im Sinne von unterscheidend zwischen verschiedenen Perspektiven.
In der Abschlussstille macht sich wieder mein Becken bemerkbar. Jetzt mehr mit der Rückseite und von dort nehme ich eine Kraft wahr, die mir helfen will für meine Wahrheit einzustehen.